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4.21 Laure Prouvost
Lick In The Past

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4.21 Laure Prouvost
Lick In The Past
15.7.–14.10.21
„When we move by night at the speed of desire
With you at the wheel my limit goes higher
Just turn me on, you turn me on
You are my petrol, my drive, my dream, my exhaust.“
Lyric aus dem Song Vroom
Text
Laure Prouvost

In dem Video Lick In The Past (2016), das auf einem verlassenen Parkplatz in der Innenstadt von Los Angeles gedreht wurde, treffen sich hippe Teenager*innen in der Stadt, improvisieren Texte und handeln nach einem geheimen Drehbuch der Künstlerin.
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Sie amüsieren sich, sprechen über Banales und Surreales, lecken an ihren Handys, posen, berühren sich und andere Körper wie zufällig, fahren mit dem Auto durch LA. Die Laiendarsteller*innen bereichern ihre Dialoge mit Slang und eigenen Ausdrücken, während die Erzählerin, Laure Prouvost selbst, Alliterationen, Lautmalereien und Wortspiele flüstert. Diesem urbanen Szenario stellt die Künstlerin Aufnahmen aus ihrem Video We Will Go Far (2015) von Jugendlichen aus dem ländlichen Frankreich gegenüber, die hier mit dem Motorrad aus ihrem Alltag zu entfliehen versuchen. Als Vehikel der Flucht dient der Clique in LA hingegen ein weißes Auto, womit sie an Autobahnen, Häuserfassaden, Parkhäusern, Wüsten und Strandpromenaden dahingleiten – somit wird LA zugleich als Sehnsuchtsort und Schauplatz zahlreicher Kinofilme lebendig. Auch blitzen Edward Ruchas Schwarz-Weiß-Fotografien von LA aus den 1960er und 1970er Jahren vor dem inneren Auge auf, die einem kartografischen und konzeptuellen Ansatz folgen, aber gerade durch ihre Prägnanz als Archetypen der amerikanischen Kultur und Landschaft immer noch präsent sind.

Konterkariert werden diese Stadtlandschaften, gerade zu Beginn der Videoarbeit, durch teils idyllische, teils widerspenstige Tier- und Naturbilder. Ein Beispiel dafür sind weidende Kühe, nach Luft japsende Fische oder ein als Tintenfisch fungierender Pinsel. In einer kurzen Bildsequenz taucht die Künstlerin selbst auf, wie sie scheinbar einen toten Vogel verspeist – keine grausame Fantasie, sondern dahinter verbirgt sich eine kunsthistorische Referenz an das Gemälde Jeune fille mangeant un oiseau (Le Plaisir) (1927) von René Magritte (1898-1967). Laure Prouvost bedient sich aus einem großen Repertoire an visuellen Referenzen und wiederkehrenden Motiven aus ihrem Werkkomplex wie etwa Tieren (Fisch, Tintenfisch, Kuh, Vogel), Flüssigkeiten (Wasser, Honig, Milch, Silikon, Öl) Konsum-Objekten (Auto, Motorrad, Handy) und Körperteilen (weibliche Brust, Hände). Durch eine virtuose Montage von signifikanten Einzelbildern erschafft sie sowohl surreale Bilder als auch albern überzogene Metaphern, provoziert aber explizit erotische Assoziationen und Klischees, die trotzdem ganz unmittelbar auf Rezipient*innen wirken und ein eigenes Kopfkino auslösen können. Die bewusst erzeugte visuelle Überreizung und dem künstlerischen Prinzip des Gesamtkunstwerks folgend, sind ihre filmischen Arbeiten in ihren Ausstellungen oftmals in aufwendig, bis ins letzte Detail inszenierte Raum-Installationen eingebettet. Charakteristisch dafür sind verwahrlost wirkende Settings, die etwas Dystopisches und Toxisches ausstrahlen, auf dem Boden zerstreute, zerstörte (Konsum-)Objekte, die von einer epoxidartigen, hart werdenden Flüssigkeit – wie eine zweite Haut – überzogen werden, räumlich ergänzt werden diese durch gefundene oder eigens angefertigte Möbel, Plakate, Schilder, Tapeten, Skulpturen oder Zeichnungen. Dadurch entsteht eine sinnlich verdichtete Atmosphäre zwischen Fantasie und Begierde, Realität und Déjà-vu.

Der von Laure Prouvost gestaltete Film ist und bleibt für Rezipient*innen ambivalent: idyllisch und widerspenstig, naiv und raffiniert, obszön und sinnlich, einzigartig und universell. Das Roadmovie der Teenager*innen ist der Versuch einer Flucht aus dem banalen Alltag, die meistens immer wieder zu Hause endet. Ein endloser Aus- und Aufbruch aus der eigenen Haut, der eigenen Geschichte, dem eigenen Leben. Die idyllische Landschaft wird durch Motorradabgase verpestet, LA durch seine Betonkanäle und Ölquellen entromantisiert. So entsteht nicht zuletzt ein bewusst orchestrierter Schwindel der uns dazu verführt in eigene Assoziationen, Gedankenwelten oder Erinnerungen abzutauchen, dem Alltag für einen Augenblick selbst zu entfliehen, analog zu den gesprochenen Worten zu Beginn der Videoarbeit: „We could go far, far away… (Humming) Follow me we could go far, far away. Come this way! (Singing) We could go far, far …“

Die mit dem Turner-Preis ausgezeichnete Künstlerin Laure Prouvost ist bekannt für ihre üppigen, immersiven Filme und Mixed-Media-Installationen. Da sie daran interessiert ist, lineare Erzählungen und erwartete Assoziationen zwischen Wörtern, Bildern und Bedeutungen zu verwirren, hat sie gesagt, dass in ihren Werken „Fiktion und Realität sich wirklich vermischen“. Verführerisch und erschütternd zugleich, bestehen ihre Filme aus einer reichen, fast taktilen Auswahl an Bildern, Tönen, gesprochenen und geschriebenen Sätzen, die in schnellen, stark rhythmisierten Schnitten auftauchen und wieder verschwinden. Diese werden oft in Installationen gezeigt, die mit einer schwindelerregenden Auswahl an gefundenen Objekten, Skulpturen, Gemälden, Zeichnungen, Möbeln, Schildern und architektonischen Assemblagen gefüllt sind, basierend auf den Themen und Bildern ihrer Filme. Prouvost erlaubt kein passives Betrachten, durch ihre Arbeit spricht sie die Betrachter*innen oft direkt an und zieht sie in ihre widerspenstigen, fantasievollen Visionen.

Laure Prouvost (geboren 1978, lebt in Antwerpen) ist Absolventin des Central St Martins und Goldsmiths College in London. Sie nahm auch am LUX Associate Artists Programme teil. Zu ihren letzten Einzelausstellungen gehören: in der Kunsthal Charlottenborg, Kopenhagen (2021); in der Lisson Gallery London (2020); in der Kunsthalle Lissabon (2020); im les Abattoirs, Toulouse und am LaM – Lille Métropole Musée d’art moderne, d’art contemporain et d’art brut, Villeneuve d’Ascq (2020); im M HKA – Museum of Contemporary Art Antwerp (2019) sowie im Palais de Tokyo, Paris (2018). Prouvost vertrat Frankreich im Rahmen der 58. Venedig Biennale (2019) und nahm an der 22. Sydney Biennale teil (2020). Prouvost gewann 2011 den Max Mara Art Prize for Women und war Preisträgerin des Turner Prize 2013.

Lick In The Past, 2016
Einkanal-Video, Farbe, Ton
8:23 Min.
Courtesy die Künstlerin und Galerie carlier | gebauer, Berlin/Madrid
Text Cynthia Krell
Übersetzung Amy Patton
Foto Ines Könitz

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