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10.22 Anri Sala
Unravel

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10.22 Anri Sala
Unravel
15.8.–9.10.22
Der in Albanien geborene Videokünstler Anri Sala erforscht in seinen Videos, Objekten und Sound-Installationen, die Beziehung zwischen Zeit und Bild, Raum und Klang. In seinen Filmen gibt es weder eine lineare Erzählung noch treten Schauspieler*innen auf. Es sind im Wesentlichen musikalische Stücke, die in den Arbeiten zu den eigentlichen Hauptfiguren werden. Die Musik und das Musikalische schreiben das Drehbuch, bestimmen die Dramaturgie und den Rhythmus. Mehr
Neben den musikalischen Qualitäten, interessiert sich der Künstler insbesondere für die Rezeptionsgeschichte, sowie deren soziale und politische Einbettung, jeweils interpretiert aus unserer Zeit. In seinen frühen Videoarbeiten aus den späten 1990er Jahren nutzte Sala vorwiegend dokumentarische Strategien, um das Leben nach dem Kommunismus in seiner Heimat Albanien zu untersuchen. Etwas später, Anfang der 2000er Jahre, verlagert sich das Interesse des Künstlers hin zu den psychologischen Auswirkungen akustischer Erfahrungen. Er kreiert mittels Musik und Klang komplexe filmische Kompositionen, die nicht nur innere Bilder beim Betrachten auslösen, sondern auch Erinnerungen wecken und Emotionen vermitteln. Seit Mitte der 2000er Jahre bindet Sala sowohl in seinen Filmen als auch bei Live-Auftritten (Performances) vermehrt Musiker*innen ein. Neben seinen bewegten Arbeiten, erschafft Anri Sala auch komplexe Objekte-Sound-Installationen mit teils historischen Instrumenten. Seine Einzelausstellungen sind dramaturgisch und räumlich – ähnlich wie ein Musikstück – komponiert, und reagieren jeweils ortsbezogen auf die Besonderheiten der (Museums-)Architektur, um den Besucher*innen ein bildhaft-akustisches Raumerlebnis zu ermöglichen.

Der Titel des Videos Unravel, 2013, bezieht sich sowohl auf das eng. Verb „unravel“ (dt. sich auflösen/etwas entwirren) als auch auf den Nachnamen von Maurice Ravel, dem Komponisten eines berühmten Klavierkonzerts für die linke Hand. In dem Video hört sich eine Frau mit Kopfhörern, eine DJane, zwei verschiedene Versionen des Concerto an und versucht sie am Turntableset zu synchronisieren. Mit höchster Konzentration und professioneller Ausdauer widmet sich die DJane dieser an sich unmöglichen Aufgabe über die gesamte Dauer der knapp zweistündigen Performance. Die Kamera umkreist einmal die junge Frau, zeigt jedoch über einen langen Zeitraum in Nahaufnahme nur die Hände beim Anhalten und Loslassen der beiden Schallplatten am Turntableset. Eher zum Ende wird der architektonische Raum sowie durch eine offen stehende Tür etwas vom Außenraum sichtbar. Es handelt sich um die monumentale Architektur des Deutschen Pavillons auf dem „Giardini“-Gelände in Venedig, wo alle zwei Jahre die Venedig Biennale stattfindet. Denn anläßlich des 50. Jubiläums des Élysée-Vertrags tauschten Deutschland und Frankreich erstmalig ihre nationalen Pavillons. Als Repräsentant Frankreichs, realisierte Anri Sala, eine dreiteilige Videoinstallation.

Die Aufnahmen wurden von den Pianisten Louis Lortie und Jean-Efflam Bavouzet, in Begleitung des Französischen Nationalorchesters, eingespielt. Der Künstler komponierte das Tempo des Konzerts für jeden Pianisten neu, so dass die beiden Aufführungen synchron und asynchron zugleich fortschreiten, um die Wahrnehmung musikalischer Echos zu erzeugen und durch dynamische Wiederholungen zu verstärken. Die scheinbar desorientierten Tempi verkomplizieren das Stück, verlängern und verkürzen es, drücken und ziehen an den Ohren und Gehirnen der Rezipient*innen – das was die DJane hört, bleibt jedoch verborgen. Es bleibt beim Versuch, gemeinsam und unabhängig voneinander, das musikalische Werk zu entwirren und aufzulösen: Es zu seinem Anfang zurückzubringen, als einheitliches und harmonisches Ganzes. Die Auflösung erfolgt ganz zuletzt mit dem letzten Takt des Concerto. So eröffnet die zeitliche Differenz zugleich einen Resonanzraum für eine klangliche Dissonanz, die das Spiel mit der Zeit in ein bildhaft-akustisches Raumerlebnis überführt. Der Künstler eröffnet nicht nur einen akustischen Resonanzraum, sondern baut eine permanente Spannung auf, welche die gewohnten Hörerlebnisse – in diesem Fall der klassischen Musik – verlässt und konterkariert. 

Anri Salas Vorgehensweise in dieser Arbeit verdeutlicht exemplarisch auch sein künstlerisches Koordinatensystem, welches er mit den folgenden Worten auf den Punkt bringt: „Musik ist ein Auslöser, ein Ausgangspunkt, aber auch ein Weg, Zeit zu kultivieren und gemäß eines Ablaufplans zu entfalten. In unserer Gesellschaft ist die Beziehung zwischen Bild und Musik hierarchisch, wie zwischen einem Herren und seinem Sklaven. Normalerweise folgt die Musik passiv dem Bild – zum Beispiel im Mainstream-Kino: Die Musik wird hinzugefügt, wenn alles schon zu Ende gedacht ist. Sie funktioniert als Code, der die emotionale Reaktion der Zuschauer auf eine Szene steigern soll. Mein Ansatz ist genau umgekehrt: die Musik steht am Anfang, sie ist die Handlung, die man im Bild sieht – what you hear is what you see.”¹

Anri Sala (geb. 1974 in Tirana, Albanien) lebt und arbeitet in Berlin. Er studierte in Tirana, Paris und Tourcoing. Er wurde mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Vincent Award (2014). Einzelausstellungen waren u. a. in der GAMeC Galleria d’Arte Moderna e Contemporanea di Bergamo (2022), im Kunsthaus Bregenz (2021), im MUDAM Musée d’Art Moderne Grand-Duc Jean, Luxemburg (2019), im Castello di Rivoli, Turin (2019), im Tamayo Museum, Mexiko-Stadt (2017), im New Museum, New York (2016), im Haus der Kunst, München (2014), im Centre Georges Pompidou, Paris (2012) und in der Serpentine Gallery, London (2011) zu sehen. Sala nahm an zahlreichen Gruppenausstellungen und Biennalen teil wie etwa der 57. Venedig Biennale (2017), als Repräsentant Frankreichs an der 55. Venedig Biennale (2013), der dOCUMENTA (13), Kassel (2012), der 29. Biennale von São Paulo (2010), der 2. Moskau Biennale (2007) und der 4. Berlin Biennale (2006).

Unravel, 2013
Einkanal-Video, Farbe, Ton
20:45 Min.
Courtesy der Künstler and Esther Schipper, Berlin
© VG Bild-Kunst, Bonn, 2022
Still © Anri Sala
Fotos Ines Könitz
Text Cynthia Krell
Translation Amy Patton

¹ In: Donna Schons, „Ich untersuche Musik wie ein Fossil“, Interview mit Anri Sala, Monopol-Magazin, https://www.monopol-magazin.de/anri-sala-mudam?slide=1 (04.07.2022)

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