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6.21 Dor Guez
The Sick Man of Europe: The Painter

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6.21 Dor Guez
The Sick Man of Europe: The Painter
15.12.–14.2.22
In seiner künstlerischen Arbeit thematisiert Dor Guez wiederkehrend das Spannungsfeld von offizieller Geschichtsschreibung und persönlicher Biografie/Erinnerung, von kollektivem und subjektivem (Bild-)Gedächtnis und Archiv. Innerhalb von Dor Guez’ Werkserien entsteht auf der inhaltlichen und formalen Ebene ein komplexes Bezugssystem, so auch in der mehrteiligen Arbeit The Sick Man of Europe. Mehr
Der Künstler verweist auf einen Ausdruck des 19. Jahrhunderts, der für den Zusammenbruch des osmanischen Reichs verwendet wurde. Er beleuchtet die Militärgeschichte anhand individueller Biografien von Kulturschaffenden (Architekt, Komponist, Maler), die als Soldaten in verschiedenen Kriegen und Konflikten im Nahen Osten involviert waren. The Sick Man of Europe: The Painter, 2015, wird gewöhnlicherweise als raumgreifende Gesamtinstallation präsentiert: neben einer Videoarbeit und Reproduktionen von Gemälden gehören zahlreiche im Raum verteilte Tischvitrinen dazu, die mit scheinbar persönlichen, gefundenen oder gesammelten Alltagsgegenständen, Objekten, Fotos, Zeitschriften, Büchern sowie teilweise mit Zeichnungen bestückt sind. Als (symbolische) Zeitzeugen tauchen diese auch in der Videoarbeit auf. Die gezeigten Gegenstände, Fundstücke und Artefakte vervollständigen das Porträt und die Erzählung der zentralen Person (Maler).

Das Video The Painter, 2015, verknüpft dokumentarische Ansätze mit der Sichtbarmachung persönlicher Geschichte. Die Hauptfigur, der Maler D. Guez, trägt denselben Nachnamen und Initial des Vornamens wie der Künstler selbst – diese Spur impliziert ungewollt eine autobiografische Lesart. Im Film spricht der Maler episodenhaft aus seinem Leben. Gerahmt wird sein Lebensbericht zu Beginn und zum Schluß von einer tunesischen Tierfabel.¹ Wir erfahren, dass er aus einer Familie tunesischer Juden stammt, die nach Israel auswanderte. Aufgewachsen in einem religiösen Haushalt, sprach D. Guez draußen Hebräisch und zu Hause Arabisch. Im Anschluß berichtet der Maler sehr ausführlich von seinem autodidaktischen Werdegang zur Malerei, bevor er Soldat wurde. Zahlreiche Schnappschüsse aus der Zeit beim Militär illustrieren die vorgelesenen Briefe an seine Familie. Es folgt chronologisch der Einsatz im Jom-Kippur-Krieg² im Oktober 1973, der brachial mit einem Angriff in Syrien endet und ihn dabei traumatisiert – Auszüge aus der psychiatrischen Akte von D. Guez werden folglich zitiert. Zuletzt erfahren wir etwas über die Beziehung zu seiner Ehefrau, die aus einer christlich-palästinensischen Familie stammt. Der Film endet mit der Fortsetzung der Tierfabel.

Der Erzählfluss des Protagonisten wird durch visuelles Material bestehend aus seinen Zeichnungen und Malereien, Fotografien aus der Militärzeit, Abbildungen aus Büchern oder Dokumenten veranschaulicht. So werden auch die Malereien als Fragment oder als Close-up aufgenommen, sodass die aufgerissenen Farbschichten detailreich auffallen; hier kann eine Analogie zu den Spuren und Verletzungen der Geschichte gezogen werden. Die Motive sind inspiriert von der direkten Lebenswelt als auch stilistisch von der westlichen Kunstgeschichte geprägt und zeigen figurativ angedeutete (Dorf-)Landschaften und Stillleben. Mehrmals setzt Dor Guez den Prozess des Scannens formal ein. Erst durch das künstliche Gegenlicht des Scanners wird die Zeichnung, die Malerei und das Dokument für uns sichtbar gemacht – der Künstler agiert sinnbildlich wie dieser technische Vorgang, legt die ungeschriebene und persönlich erlebte Geschichte offen, die sich hinter der Oberfläche der offiziellen Geschichtsschreibung verbirgt. 

Dor Guez’ Konstruktion des Sick Man-Narrativs spiegelt Spannungen zwischen östlich-religiösen und westlich-säkularen Kulturen in Grenzregionen wie Israel („Villa im Dschungel“) und der Türkei („das Tor zu Asien“) wider. Jedes Video und Einzelobjekt aus der Gesamtinstallation The Sick Man of Europe zeigt, wie oft die geschriebene Geschichte mit den Erzählungen unterschiedlicher Personen kollidiert. Das Projekt wandelt die Lesart der Geschichte des Nahen Ostens metaphorisch von einer stark vereinfachten Metaerzählung zu einem nuancierten, vielfältigen Chor persönlicher Geschichten in einer Region, in der der Militärdienst für alle wehrfähigen Männer, und in Israel auch für die Frauen, obligatorisch ist.

Das Video gleicht einem visuellen Essay, welches formal einem stringenten Skript folgt. Mit seinem dokumentarisch-biografischen Ansatz fokussiert Dor Guez vor allem auf Fragen der Repräsentation sowie auf das Verhältnis von Geschichte und Gedächtnis durch verschiedene materielle Zugriffe auf Vergangenheit. Damit spannt er einen Bogen zwischen der Biografie als Erzählung vom eigenen Leben und der Geschichte als kollektivem Zugang vieler subjektiv erlebter Vergangenheiten, die in ein Verhältnis mit narrativen Prozessen gesetzt werden. Durch das Sammeln und Archivieren von Objekten, die durch die persönliche Auswahl und eine museale, archivarische Präsentation an Wert gewinnen, wird eine subjektive, zum Teil auch biografische Erzählweise beschrieben, welche die kollektive Geschichtsschreibung spiegelt und verdichtet. Dor Guez hat sich einen Blick von außen angeeignet, der es ermöglicht, eigene Erfahrungen einer Prüfung zu unterziehen und diese Untersuchungen künstlerisch zu verarbeiten.

Dor Guez (*1980, lebt in Jaffa) ist Künstler und Dozent. Er wurde in Jerusalem als Sohn einer palästinensischen Familie aus Lydda mütterlicherseits und einer Familie jüdischer Einwanderer aus Nordafrika väterlicherseits geboren. Seine Fotografien, Videoinstallationen, Essays und Lecture-Performances erforschen die Beziehung zwischen Kunst, Erzählung, Trauma, Erinnerung und Vertreibung.

Der Künstler stellt in zahlreichen Werkkomplexen die persönliche Erfahrungen der offiziellen Geschichtsschreibung über die Vergangenheit gegenüber. Damit thematisiert er immer wider aufs neue Fragen zur Rolle der Gegenwartskunst beim Erzählen ungeschriebener Geschichten und den damit verbundenen Blindspots, der Rekontextualisierung von visuellen und schriftlichen Dokumenten und spürt somit auch das Potential einer vielstimmigen und spekulativen Narration auf. In den letzten 20 Jahren konzentrierte sich seine künstlerische Forschung und Arbeit auf Archivmaterialien und fotografische Praktiken des Nahen Ostens und Nordafrikas sowie auf die Kartierung von Gewaltspuren in der Landschaft. 2009 gründete Dor Guez das Christian Palestinian Archive (CPA), das erste Archiv, das sich der christlich-palästinensischen Minderheit im Mittleren Osten widmet. Im Zentrum seiner künstlerischen Herangehensweise, die auf der Verwendung komplexer Bezugssysteme fußt, steht das Bewahren von Bildern.

Dor Guez promovierte 2014 an der Universität Tel Aviv und unterrichtet seit 2009 an der Bezalel-Akademie für Kunst und Design. Er ist Leiter des Masterprogramms für Bildende Kunst an der Bezalel-Akademie und Kodirektor von SeaPort: Mediterranean Curatorial Residency. Seine Werke wurden in über 40 Einzelausstellungen weltweit gezeigt, darunter: MAMBO Museum of Modern Art of Bogotá (März 2022); Galerie carlier | gebauer, Madrid (April 2022); Princeton University Art Museum, New Jersey (Mai 2022); Goodman Gallery, Kapstadt und New York (2021); Kunst im Kreuzgang, Bielefeld (2021); Les Rencontres d’Arles, Paris (2020); Galerie carlier | gebauer, Berlin (2020); Center for Contemporary Art FUTURA, Prag (2020); American Colony Archive, Jerusalem (2019). Außerdem Dor Guez hat auch an zahlreichen Gruppenausstellungen teilgenommen: Jewish Museum, New York (2021); Israel Museum, Jerusalem (2021); Taubman Museum of Art; Roanoke, USA (2021); Hugh Lane Gallery, Dublin (2021); University of Northern Iowa Gallery of Art, USA (2020); Susquehanna Art Museum, Harrisburg, USA (2019). 

The Sick Man of Europe: The Painter, 2015
1-Kanal Video, Farbe, Ton
20:00 Min
Text Cynthia Krell
Übersetzung Amy Patton
Foto Ines Könitz

¹Diese handelt von einem Käfer-Weibchen, das einen Mäuserich heiratet. Der Käfer fällt in eine Grube, der Mäuserich hält seinen Schwanz hin, damit sie gerettet werden kann. Dabei fällt der Schwanz ab. Nach einer Party mit allen Mäusen aus dem Dorf, werden allen Mäusen der Schwanz entfernt, um damit (äußerlich) auf die Gleichheit aller Lebewesen hinzuweisen.
²Ägypten und Syrien griffen Israel am Feiertag Jom Kippur am 06. Oktober 1973 an und eroberten die vorher von Israel besetzten Gebiete zurück. Die UN-Resolution 338 beendete den Krieg nach Unterzeichnung durch beide Kriegsparteien am 26. Oktober 1973.

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