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19.24 Pauline Boudry & Renate Lorenz
(No) Time

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19.24 Pauline Boudry & Renate Lorenz
(No) Time
15.8.–13.11.24
Eröffnung
30.8.24, 20–22 Uhr

Video In Dialogue mit Franziska Derksen
3.9.24, 20.30 Uhr
5.11.24, 20 Uhr

In der Filminstallation (No) Time, 2020 treten vier unterschiedliche Tänzer:innen jeweils einzeln oder in verschiedenen Konstellationen auf einer schwarzen Bühne auf. Die Performer:innen präsentieren sich in einer Weise, die eine eindeutige Zuordnung zu einem Geschlecht erschwert. Zudem sind alle Tänzer:innen schwarz gekleidet. Trotz dieser Uniformität weisen die Tänzer:innen individuelle, körperliche Merkmale auf, die sie voneinander unterscheiden. Die Performance und der Bewegungsfluss wirken auf den ersten Blick stark verfremdet. Verstärkt wird diese Irritation durch die teilweise verzerrte Musik oder die gelben, sich bewegenden Jalousien vor der Projektion.
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Die Tänzer:innen nutzen zahlreiche Bewegungsmuster, darunter extreme Langsamkeit, Rhythmuswechsel, Stille und Pausen. Im Duett werden manche Bewegungen scheinbar zeitlich gegenläufig ausgeführt. In einigen Fällen wurden einzelne Tanzsequenzen technisch verändert, rückwärts, verlangsamt oder beschleunigt abgespielt. Durch den weitgehenden Verzicht auf Musik rücken die sich bewegenden Körper in den Vordergrund und die unterschiedlichen Tanzstile wie etwa Hip-Hop, Dancehall, (Post-)Modern Dance und Drag-Performance werden umso deutlicher. Diese werden durch plötzliche Ähnlichkeiten, eindringliche Bewegungen und körperliche Erinnerungen überbrückt, wodurch Berührungspunkte entstehen oder verschoben werden.

Die Künstler:innen verwenden bestimmte Mittel zur theatralischen Inszenierung: Besonders auffällig sind die an den Kleidungsstücken befestigten Ketten, die als wiederkehrendes Element im Werk von Pauline Boudry und Renate Lorenz auftauchen. So sind in (No) Time an einem Ärmel viele silberne Ketten befestigt, die Assoziationen an Schmuck oder Waffen wecken. Oder eine Kappe ist mit einem Kettenvorhang verziert, so dass das Gesicht der Tanzenden nicht zu erkennen ist. Während des Tanzes werden die Kettenprothesen aktiv eingesetzt, indem sie einerseits den Bewegungsradius der Gliedmaßen erweitern, und andererseits als visuell-akustisches Element die Aufmerksamkeit des Publikums auf sich ziehen. Des Weiteren werden bewusst Referenzen an die Hip-Hop-Kultur sowie Drag-Performances hergestellt. Innerhalb des Kontextes des Tanzes bleibt der Einsatz von Ketten ambivalent, da er in den Solo- und Duett-Darbietungen Assoziationen zu Bewegungen von Angriff und Verteidigung evoziert. Es werden weitere Requisiten wie Plateau-Schuhe, Spitzenschuhe oder eine Perücke verwendet, welche aufgrund ihrer Symbolhaftigkeit zu agierenden Akteur:innen werden.

Die schwarze Bühne ist ein wesentlicher Bestandteil der Inszenierung und erfüllt als Black Box sowohl eine wörtliche als auch eine metaphorische Funktion. Der reduzierte Einsatz einer automatischen Glasschiebetür bewirkt eine optische Trennung und Fokussierung des Bühnenraums, wodurch der Auftritt und Abgang der Darsteller:innen als wesentliches theatrales Element betont wird. Zusätzlich wirkt der glänzende Bühnenboden als Spiegel und Verdoppelung der Performance und verleiht dem Ganzen einen surreal-utopischen Moment. Die gelben Jalousien vor der Projektion bewegen sich scheinbar autonom. Dadurch wird der Blick auf die Tanzperformance unterbrochen und es entstehen visuelle Leerstellen und narrative Zwischenräume.

Im historischen Rückblick lässt sich feststellen, dass der Tanz (bzw. die damit verbundene Musik) wiederholt als Medium diente, um Empowermentprozesse von marginalisierten Gruppen zu fördern und sich gegen bestehende Gesellschafts- und Machtordnungen mit künstlerischen Mitteln teilweise subversiv zur Wehr zu setzen. Beispiele hierfür sind Capoeira, Hip-Hop, Dancehall oder Drag-Performance. Diesen kulturgeschichtlichen Aspekt verbinden die Künstlerinnen mit dem aktuellen Phänomen des so genannten Backlash, einer starken negativen Reaktion auf eine Idee, eine Handlung oder ein Objekt. Als Backlash bezeichnet man die ablehnende Haltung der normativen so genannten Mehrheitsgesellschaft gegenüber progressiven Randgruppen. Diese streben einen gesellschaftlichen Wandel an, der mit der Infragestellung struktureller Privilegien und Machtverhältnisse einhergeht. Die zuletzt entstandenen Videoarbeiten Moving Backwards, 2019, und Les Gayrillères, 2022, bilden mit (No) Time eine Trilogie. Die beschriebenen Backlashes dienen als Ausgangspunkt für eine künstlerische Erforschung in Form von Tanz und queeren Handlungs- und Möglichkeitsräumen. Letztere werden in Kollaboration mit einem Team aus Choreograph:innen und Performer:innen entwickelt.

In der Trilogie beschäftigen sich die Künstlerinnen mit dem Phänomen der Schwellenräume (engl. liminal spaces). Diese können als Zwischenräume zwischen Zeiten, zwischen sozialen (Un-)Ordnungen und zwischen noch nicht erreichten Zuständen verstanden werden. Der Begriff der Liminalität wurde Ende der 1960er Jahre von dem Kulturanthropologen Victor Turner geprägt und wird seither in verschiedenen Forschungsfeldern – auch in der Kunstwissenschaft – diskutiert. Turner beschreibt damit einen Schwellenzustand, in dem sich Individuen oder Gruppen befinden, nachdem sie sich rituell von der vorherrschenden sozialen Ordnung gelöst haben (z. B. Kindheit-Pubertät-Erwachsenenalter).

Gegenwärtig lässt sich eine besondere Relevanz des Begriffs feststellen. Aktuelle Analysen sich wandelnder politischer und soziokultureller Konstellationen lassen sich teilweise als direkte Beschreibungen des Phänomens der Liminalität interpretieren. Gesellschaftliche Umbrüche und Veränderungen des individuellen Status gehen mit Irritationen und Herausforderungen einher, die zur Gefährdung oder Bedrohung individueller Lebenslagen und sozialer Ordnungen führen können. In diesem Zusammenhang eröffnen sich labile Zwischenräume außerhalb gewohnter Strukturen, von denen ganze soziale Gruppen in unterschiedlichen Kulturen betroffen sind.

In den Arbeiten von Boudry & Lorenz wird der gesellschaftliche Zustand aus der Perspektive von Minderheiten thematisiert, das Potenzial von transformativen Räumen und Körpern im Schwebezustand erforscht und theatralisch inszeniert. Das Ergebnis sind subversive künstlerische Akte, die versuchen einen Schwellenzustand zwischen der gewohnten soziokulturellen Struktur und einer neuen, zunächst noch unbekannten Umgebung und Persona zu schaffen oder eine mögliche Zukunft zu antizipieren. Denn der liminale Zustand ist kein statischer, sondern ein fluktuierender Schwebezustand. Es gilt, den fließenden Prozess zuzulassen, auszuhalten oder Kunst als Erfahrung des Liminalen zu verstehen.

Seit 2007 arbeiten Pauline Boudry und Renate Lorenz gemeinsam in Berlin. Ihre Installationen zeichnen sich dadurch aus, dass sie die Spannung zwischen Sichtbarkeit und Opazität inszenieren. Die Filme der Künstlerinnen fangen Performances vor der Kamera ein, oft inspiriert von einem Lied, einem Bild, einem Film oder einer Filmmusik aus der nahen Vergangenheit. Die Künstlerinnen stellen normative historische Erzählungen und Zuschauer:innenkonventionen in Frage, indem sie Figuren und Handlungen über die Zeit hinweg inszenieren, überlagern und neu erfinden. Die Darsteller:innen sind Choreograph:innen, Künstler:innen sowie Musiker:innen, mit denen sie in den Projekten über die Bedingungen der Performance, die oftmals gewalttätige Geschichte der (Un-)Sichtbarkeit, die Pathologisierung von Körpern sowie über Gesellschaft, Glamour und Widerstand diskutieren. Die bewusste Missachtung konventioneller und traditioneller Repräsentationsformen dient dabei der Untersuchung ebendieser.

Einzelausstellungen und Projekte von Pauline Boudry und Renate Lorenz waren unter anderem zu sehen im Kunstnernes Hus, Oslo (2023), in der Tensta konsthall Stockholm (2023), im Palacio de Cristal / Museo Nacional Centro de Arte Reina Sofía, Madrid (2022), im CA2M Centro de Arte Dos de Mayo, Madrid (2022), im Neue Berliner Kunstverein (n.b.k.) (2022), im Kunstraum Innsbruck (2021), im FRAC Bretagne, Rennes (2021), im Schweizer Pavillon der 58. Biennale di Venezia (2019), in der Julia Stoschek Collection, Berlin (2019), im Centre culturel suisse, Paris (2018), im
Contemporary Arts Museum Houston (CAMH) (2017), in der Kunsthalle Zürich (2015) und in der Kunsthalle Wien (2015). Ihre Arbeiten wurden in zahlreichen Gruppenausstellungen gezeigt, darunter auf der 35. Bienal de São Paulo (2023), im Centre Pompidou, Paris (2023), im Kunstmuseum Magdeburg (2023), im Kunstverein Braunschweig (2023), in der Whitechapel Gallery, London (2022), in der National Gallery of Victoria, Melbourne (2022), im Van Abbemuseum, Eindhoven (2022), in den Sofia Art Projects (2021), im Mudam Luxembourg – Musée d’Art Moderne Grand-Duc Jean (2021) und im BAK, basis voor actuele kunst, Utrecht (2021).

www.boudry-lorenz.de

Text Cynthia Krell
Übersetzung Amy Patton

(No) Time, 2020
Installation mit HD, 3 Jalousien
Video, Farbe, Ton
20 Min.
Choreographie/Performance Julie Cunningham, Werner Hirsch, Joy Alpuerto Ritter, Aaliyah Thanisha
Courtesy die Künstlerinnen und Ellen de Bruijne Projects, Amsterdam.

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