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15.23 Lili Reynaud-Dewar
TEETH GUMS MACHINES FUTURE SOCIETY

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15.23 Lili Reynaud-Dewar
TEETH GUMS MACHINES FUTURE SOCIETY
15.7.–14.9.23
Das Video beginnt mit einer langen Kamerafahrt aus einem Auto heraus durch die Stadt Memphis. Zu sehen sind typisch amerikanische Straßenzüge und Gebäude, die an Szenen aus Filmen oder Musikvideos erinnern. Memphis, Tennessee, liegt an der Grenze zwischen dem reichen Mittleren Westen und dem ärmeren Süden der Vereinigten Staaten. Die Künstlerin wählte diese Stadt als Schauplatz aufgrund ihres historischen Hintergrundes. Mehr
Denn in Memphis befand sich sowohl das Epizentrum des amerikanischen Sklavenhandels als auch der späteren Bürgerrechtsbewegung. Eines der bekanntesten Ereignisse in diesem Zusammenhang war der so genannte Sanitärstreik von 1968, der durch die Ermordung von Martin Luther King Jr. noch verschärft wurde. Memphis ist auch ein Zentrum der amerikanischen Musikgeschichte, vor allem bekannt für seine Bluesmusik, die letzte Ruhestätte von Elvis Presley und ein Hotspot der Rap- und Hip-Hop-Musikszene. 

Auch die schwarze Musikkultur spielt in diesem Video eine wichtige Rolle. Hier in Form eines Kultgegenstandes, des sogenannten Grill – ein glänzendes Schmuckstück aus Edelmetall, das über den Zähnen getragen wird. Der Grill gilt als Statussymbol und manchmal als Reliquie der Rap- und Hip-Hop-Kultur, die ersten Modelle gab es bereits Anfang der 1980er Jahre. In diesem Video hat Lili Reynaud-Dewar mit vier lokalen Komiker:innen, Weißen und People of Color, zusammengearbeitet, um kontrovers über die kulturelle Aneignung von Grillz zu diskutieren. Als weiße, europäische Künstlerin ist sie sich des Aktes der kulturellen Aneignung bewusst und provoziert die damit verbundenen Fragen und anhaltenden Debatten unserer Zeit. In Close-up-Aufnahmen wird das Einsetzen der Grillz in den Mund inszeniert, indem sowohl die Künstlerin als auch alle Comedians einen individuell angefertigten goldenen Grill benutzen. Für Reynaud-Dewar bilden die Zähne eine Schnittstelle, eine Schwelle zwischen öffentlichen und privaten Räumen der Erscheinung.

Ein weiteres wiederkehrendes Motiv im Video ist Müll, der in verschiedenen Situationen auftaucht. Es gibt mehrere Szenen, in denen Menschen explizit Müll auf die Straße werfen, Papier zerknüllt wird und animierter Müll (Dosen, Papier, Verpackungen etc.) durch die Stadt fliegt. Dieses Motiv bezieht sich auf den Sanitärstreik von 1968, bei dem überwiegend schwarze Arbeiter:innen der Müllabfuhr in Memphis streikten, weil die Bezahlung so niedrig und die Arbeitsbedingungen sehr gefährlich waren. Am 3. April 1968 hielt Martin Luther King Jr. seine berühmte Rede anlässlich des Streiks – nur einen Tag später wurde King in Memphis ermordet. Ein Gesprächspartner aus dem Video sagt passenderweise: „What Memphis has that is unique, is failure.“ / „Was Memphis einzigartig macht, ist das Scheitern.“ Die doppelte Metapher der Verschwendung – des politischen Potenzials und des buchstäblichen Mülls – bringt diese Arbeit symbolisch zusammen.

Das Video gipfelt am Ende in einer inszenierten Performance, die auf einer muschelförmigen Betonbühne aufgeführt wird, die historisch selbst als Konzertbühne für viele lokale, später berühmte Musiker:innen dient(e). Das auf der Bühne verteilte Mobiliar erinnert stark an die konzeptuell-abstrakten Skulpturen (z.B. Standing Open Structure Black, 1964) von Sol LeWitt. Auf einem solchen Hochstuhl sitzend rezitiert eine weiße, als weiblich gelesene Person, das sozialistisch-feministische Manifest A Cyborg Manifesto, 1985, von Donna Haraway. Parallel dazu kommentieren und improvisieren vier Stand-up-Comedians, begleitet wird dieser vielstimmige Chor zusätzlich von einem Sound-DJ. Das Manifest dient nicht nur als Textmaterial, sondern bildet vielmehr die inhaltliche Klammer für die Performance und das Video. In dem Essay beschreibt die Autorin die Entstehung eines neuen Wesens, das sie als „Cyborg“ bezeichnet, eine Mischung aus Mensch und Maschine. Haraway argumentiert, dass traditionelle Vorstellungen von Geschlecht, Rasse und Identität zunehmend irrelevant werden, da sich diese Kategorien durch technologischen Fortschritt und wissenschaftliche Entwicklungen vermischen.

In Haraways Vision ist der Cyborg keine Bedrohung, sondern ein Zeichen der Hoffnung auf eine neue Gesellschaftsordnung, in der Ablehnung und Ausgrenzung überwunden sind. Die Künstlerin verwebt das Manifest auf unterschiedliche Weise und stellt so einen Gegenwartsbezug her, der sich auch im Jahr 2023 manifestiert: Zum einen dient der Text als Quelle und wird auszugsweise in der Performance vorgelesen. Zum anderen fließen die Grundgedanken des Manifests in die Gespräche und Diskussionen zwischen der Künstlerin und den Komiker:innen ein, in denen es unter anderem um die Ursachen der Ausgrenzung von Minderheiten geht. Nicht zuletzt erinnern die Grillz selbst an eine futuristische Körpermodifikation und stehen in der Tradition von (ästhetischen) Körperprothesen, die Defizite des menschlichen Körpers ausgleichen und optimieren sollen. 

Wie der Titel des Videos TEETH GUMS MACHINES FUTURE SOCIETY zusammenfasst, enthält es Leitlinien für eine nahe, von Menschen gemachte Zukunft, die wesentlich von (KI-)Maschinen und sozialen Neuordnungen in der globalen Welt geprägt sein wird. Durch historische Rückgriffe und kulturelle Aneignung eines Kultobjektes schlägt die Künstlerin eine Brücke zu gesellschaftlichen Fragen nach Rassismus, Ausgrenzung von Minderheiten und dem Umgang damit in der Gegenwart. Dabei bezieht sie keine eindeutige, aufklärerische Position, sondern untersucht diese Phänomene mit humoristischen Mitteln und schafft dadurch eine distanzierte Haltung, die wiederum eine Positionierung der Betrachter:innen einfordert. Die Künstlerin komponiert eine mehr als zufällige Konstellation von Begriffen und Objekten, Zitaten und historischen Bezügen, bewegt sich gekonnt in diesen Verstrickungen, nicht um sie zu entwirren, sondern um sie aufzulösen durch den vielstimmigen Chor, den Reynaud-Dewar versammelt, um die Orte aufzuspüren, an denen sie sich überschneiden und Schnittstellen bilden. Gerade heute, wo die Zukunft weniger utopisch denn je erscheint.

Lili Reynaud-Dewar hat in den letzten Jahren ein komplexes Werk entwickelt, das immer wieder um Begriffe der kulturellen, sozialen und auch emotionalen Identität kreist. Sie schafft Objekte, Videoinstallationen, Filme, Zeitschriften (Pétunia), allein oder mit ihren Freund:innen oder Student:innen und erinnert dabei an transgressive Figuren der kulturellen Produktion des 20. Jahrhunderts wie Josephine Baker, Guillaume Dustan, Bjarne Melgaard, Cosey Fanni Tutti oder Pier Paolo Pasolini. Ihr Werk dreht sich nicht um ein bestimmtes Thema oder eine bestimmte Debatte, sondern versucht, soziale und politische Fragen in den Bereich der Ästhetik zu übertragen und Widersprüche sichtbar zu machen. Sie bricht bewusst mit Konventionen und Traditionen, um diese zu untersuchen und einen Denkraum zu schaffen, in dem sich die Betrachter:innen ihr eigenes Bild machen können und müssen. 

Lili Reynaud-Dewar (*1975 in La Rochelle, Frankreich; lebt und arbeitet in Paris und Grenoble) studierte Öffentliches Recht und Ballett, bevor sie ihr Kunststudium an der École Régionale des Beaux-Arts in Nantes aufnahm. Im Jahr 2003 schloss sie ihr Studium an der Glasgow School of Art mit einem MFA in Bildender Kunst ab. In dieser Zeit begann sie auch, kritische Texte zu schreiben. Einzelausstellungen und Projekte von Reynaud-Dewar waren u.a. zu sehen im Palais de Tokyo, Paris (2023), im Musée d’Art Contemporain de Montréal, Kanada (2023), im Museum für angewandte Kunst, Wien (2023), im Kunsthaus Bregenz (2018), im Monash University Museum of Art, Melbourne (2017), im Artpace San Antonio, Texas (2017), in der Vleeshal, Middelburg (2017), im Museion, Bozen (2017), im Kunstverein in Hamburg (2016) sowie im Bielefelder Kunstverein (2011). Ihre Arbeiten wurden in zahlreichen Gruppenausstellungen gezeigt, darunter wichtige Biennalen wie die 56. Biennale von Venedig (2015), die Biennalen von Lyon (2007/2013) und Marrakesch (2014), La Triennale im Palais de Tokyo in Paris (2012), sowie die 5. Berlin Biennale (2008). Zusammen mit Dorothée Dupuis und Valérie Chartrain ist sie Mitbegründerin und Redakteurin der Zeitschrift Pétunia.

Text Cynthia Krell

TEETH GUMS MACHINES FUTURE SOCIETY, 2016
HD Video, Farbe, Ton
35:59 Min.
Courtesy die Künstlerin und Layr, Wien.

Dokumentation Felix Hüffelmann

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