21.25 Maya Schweizer L’étoile de mer
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Eine nach der anderen – lapidar, klar und mit einem stillen Entsetzen in den Worten angesichts des unerbittlichen Vergehens der Zeit, das an diesen Bildern greifbar wird, an den privaten ebenso wie an den öffentlichen, medial zirkulierenden, die sich ins kollektive Gedächtnis (oder zumindest das Gedächtnis der Erzählerin) eingebrannt haben und an denen Geschichte als gesellschaftlich verbrachte eigene (Lebens-)Zeit kondensiert. Es sind Bilder aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts; Bilder, die nicht zuletzt deshalb bald nicht mehr sein werden, weil sie ein Stück weit bedeutungslos sind, wenn niemand mehr da sein wird, der sie mit Bedeutung auflädt.
Ernaux’ Satz vom Verschwinden aller Bilder findet sich auch in L’étoile de mer, einem Film von Maya Schweizer aus dem Jahr 2019. Doch bevor es soweit ist, taucht der Film ins Meer, genauer gesagt, ins Mittelmeer nahe der Kleinstadt La Ciotat bei Marseille. Er beginnt unter Wasser, schwebend inmitten von Fischen in den unterschiedlichsten Farben und Mustern. Auch wenn irgendwo Steine zu sehen sind, mit sanftem Grün überwuchert, ist nicht ganz klar, wo oben und wo unten ist. Es herrscht eine richtungsoffene Schwerelosigkeit. Doch schnell kommen in harschen, übergangslosen Schnitten andere Bilder in den Blick – leuchtende Tieraugen in der Nacht, eine Hand, die eine Versteinerung in die Kamera hält, riesige, herumliegende Turbinen. Künstlich und menschengemacht nehmen letztere die Strahlenform jenes Seesterns auf, dessen Name der Film im Titel trägt und mit dem er auf einen anderen, gleichnamigen Film von Man Ray aus dem Jahr 1928 verweist.
Der Titel ist nicht die einzige direkte Referenz an das vergangene 20. Jahrhundert, an seine Avantgarden und sein Leitmedium, das Kino. Wie Fragmente der Erinnerung scheinen in der Folge einzelne Bilder, bestimmte Sätze oder Sequenzen aus den Fluten des Mittelmeers aufzutauchen: der berühmte Zug, den die Gebrüder Lumière 1895/96 bei der Einfahrt in den Bahnhof ebenjenes Städtchens La Ciotat in Südfrankreich gefilmt haben, eine der Urszenen des Kinos; oder diverse Zwischentitel und Bilder aus Alain Resnais’ Letztes Jahr in Marienbad (1961), einem zentralen Film des europäischen Nachkriegskinos. „Erinnern sie sich?“, fragt eine aus der Tonspur dieses Films stammende Männerstimme wiederholt über Bilder der Nacht, nur um wenig später selbst zu antworten: „Sie haben alles schon vergessen.“
Seit beinahe zwei Jahrzehnten setzt sich Maya Schweizer in ihren vornehmlich filmischen Arbeiten nun schon mit Geschichte, dem Vergehen der Zeit und der komplexen Struktur der Erinnerung auseinander. In der stillen und berührenden Arbeit Manou, La Seyne sur Mer (2011) hat sie das Leben ihrer eigenen Großmutter im Altersheim und deren zunehmend fragmentarische Wahrnehmung der Welt thematisiert. In A Memorial, a Synagogue, a Bridge and a Church (2012) tastete sie in langen Einstellungen und mit suchendem Blick das Denkmal für die abgerissene Synagoge von Bratislava und dessen unmittelbare städtische Umgebung ab und machte dabei die Gleichzeitigkeit verschiedener Zeitschichten an einem Ort spürbar. In der Zweikanalprojektion Regarde par ici, … Und dort die Puschkinallee (2018) schließlich steht ein alter Wachturm auf der Grenze zwischen dem ehemaligen Ost- und dem Westteil Berlins im Zentrum. Im Großen und Ganzen (wenngleich nicht immer) folgen all diese Filme einer Logik des Orts, genauer, des Erinnerungsorts, wie sie der französische Historiker Pierre Nora in den 1980er-Jahren entwickelte: Der Ort, symbolisch aufgeladen von der Vergangenheit, wird zum festen Anker in einer unerbittlich vergehenden Zeit.
L’étoile de mer nun ist ein Film, der diesem fixierten (und fixierenden) Ort das Meer in all seiner Fluidität, seiner unabdinglichen und permanenten Wechselhaftigkeit und Durchlässigkeit entgegensetzt – und Wasser dabei passend als Bild für das Vergessen versteht. Dieses Vergessen ist ebenso sehr Grundvoraussetzung für ein Verhältnis zur Zeit und zum Vergangenen wie sein Gegenpart, die Erinnerung, auch wenn sich diese ungleich selbstverständlicher mit dem Begriff der Geschichte und des Zugriffs auf das Gewesene verknüpfen lässt. Man könnte, um auf kinematografische Begriffe zurückzugreifen, auch sagen: In der üblichen Konzeption von Geschichte ist das Vergessen auf eine Art das „hors-champ“, das Jenseits des Bildes: undefiniert und ohne feste Konturen, ein irgendwie unsichtbares, aber nichtsdestotrotz konstitutives Dahinter und Darum-Herum, gegen welches das Erinnerte als konturiertes und bestimmtes Bild hervortritt. Die Erinnerung: ein Stück Land, an das man sich klammert; das Vergessen: Wasser, das einen hinfort spült – ungreifbar, nicht verortbar, unendlich und niemals das Gleiche. Wo die Fluten des Vergessens kein Pardon zu kennen scheinen, zeigt sich die Erinnerung als aktives Dagegenstemmen.
Seit der Antike wird Wasser mit dem Vergessen assoziiert: In der griechischen Mythologie trinken die Verstorbenen auf ihrem Weg in die Unterwelt aus den Fluten des Flusses Lethe, um alles zu vergessen. „In seinem weichen Fließen lösen sich die harten Konturen der Wirklichkeits-Erinnerung auf“ und werden buchstäblich „liquidiert“, so der Literaturwissenschaftler Harald Weinrich. Erst dann sind die Seelen bereit für ein neues, ewiges Leben im Jenseits. Es ist das Vergessen, das den Neuanfang ermöglicht.
Zum einen gilt das zunächst einmal für Maya Schweizers Werk selbst, in dem mit L’étoile de mer und dem anfänglichen Eintauchen ins Mittelmeer ein neues Kapitel aufgeschlagen wird. Der ortsgebundenen Tiefenbohrung durch die Sedimente der Zeit wird nun ein kunstvolles, loses und laterales Verknüpfen zur Seite gestellt, ein hin- und herwogendes Ausbreiten. Und so schließen denn auch die Filme, die auf L’étoile de mer folgen – namentlich Voices and Shells (2020) sowie das prägnant betitelte Sans histoire (2023) –, unmittelbar an diese Beschäftigung mit dem Wasser an und spinnen sie weiter. Doch auch im weiteren Blick über werkimmanente Entwicklungen hinaus steht eine Arbeit wie L’étoile de mer an einem Umschlagpunkt, an dem sich angesichts der nun ubiquitären Verbreitung digitaler Medien längst auch die Modi des Erinnerns und Vergessens selbst sowie, damit einhergehend, der Umgang mit Geschichte und Geschichten ändern.
Dies fällt insbesondere auf, wenn man L’étoile de mer gegen Sans histoire stellt, den jüngsten Film der Künstlerin, der sich explizit mit Vorstellungen von der Zukunft beschäftigt. Geschichte – im Sinne einer erzählten oder auch nur erzählbaren – ist hier tatsächlich sehr viel schwerer auszumachen. Unterschiedslos scheinen die Dinge nebeneinander zu existieren, vermeintlich berührungslos und unverkoppelt lösen die Bilder sich ab, um endlos vorbeizuströmen. Sie sind zwar nicht ohne Bedeutung, aber vielleicht ohne eine übergreifende, die sich verfestigen würde. Anders gesagt: Wo sich das lateral verknüpfende, fluide Erzählen in L’étoile de mer in Ton und melancholischem Stil noch als Emanzipation von einem geradlinigeren Geschichtenerzählen – oder, in topografischen Termini: als Loslösung von einem festen Ort – interpretieren lässt, das ihm seine spezifische Kontur verleiht, hat sich Sans histoire von einer solchen Fassung und Richtung verleihenden Kontrastfolie verabschiedet. Angesichts der Bilder der Zukunft, die Sans histoire skizziert und die im Grunde eine hochtechnisierte digitale Gegenwart zeigen, erscheinen die Bilder in L’étoile de mer verstärkt als solche der Vergangenheit.
Aber, um noch einmal auf Annie Ernaux’ Anfangssatz zurückzukommen: Verschwinden deshalb gleich alle Bilder? Am Ende von L’étoile de mer sieht man einen Seestern, der sich mühsam streckt und umdreht. Dem entspricht in der letzten Sequenz von Voices and Shells das Bild einer Schlange, die sich häutet. Es sind Bilder des Umschlagens, des Neuanfangs, der Metamorphose und der Transformation. Doch auch wenn der Seestern sich dreht, sieht er von oben doch annähernd so aus wie von unten. Und auch wenn die Schlange sich häutet, kommt unter der alten Haut nichts radikal Neues oder Anderes hervor, sondern eben einfach eine neue Haut. Letztlich sind es nicht die Bilder an sich, die verschwinden. Im Gegenteil, es gibt mehr denn je davon, ein wahres Meer, eine sprichwörtliche Flut, die durch die digitalen Kanäle schwappt. Was aber sehr wohl verschwindet – gerade angesichts der Tatsache, dass mehr und mehr Bilder von Maschinen für Maschinen gemacht werden –, ist eine bestimmte Bedeutung jener Bilder, ist Geschichte im Sinne einer von Menschen gelebten, erlebten und belebten Zeit. Und auch wenn die Menschen des langen 20. Jahrhunderts allmählich aus den Bildern weichen, heißt das nicht, dass nicht andere kommen werden, um sie – neu und anders – wieder zu füllen.
Maya Schweizer lebt und arbeitet in Berlin. Ihre Arbeit war unter anderem in Einzelausstellungen bei Ortloff, Leipzig, Drawing Room, Hamburg (beide 2024), im Jüdischen Museum Berlin (2023), dem Deutschen Künstlerbund e. V., Berlin (2023), Loop, Barcelona, Spanien (alle 2023), bei ASPN Leipzig (2022), in der Villa Stuck, München (2020), oder bei al Spaziosiena, Siena, Italien (2019), zu sehen. Zudem nahm sie an Gruppenausstellungen wie Dazugehören! Belonging! im Kunsthaus Dresden (2024), Nature. Sound. Memory im Kunsthaus Baselland, Schweiz (2023), dem Basel Social Club, Basel, Schweiz (2023), Roma, a Portrait, Palazzo delle Esposizioni Museum, Rom, Italien (2023), Facing New Challenges, Heidelberger Kunstverein (2022), On the Quiet, Salzburger Kunstverein (2022), sowie an der Manifesta 13 in Marseille, Frankreich (2020), Today’s Yesterday, 1. Anren Biennale, China (2017), teil, um nur einige Beispiele aus den letzten Jahren zu nennen. Darüber hinaus wurden ihre Filme auf Festivals gezeigt, darunter 2022 und 2017 in der Sektion Forum Expanded der Berlinale – Internationale Filmfestspiele Berlin. Maya Schweizer wurde für ihre Arbeit mit zahlreichen Preisen und Stipendien ausgezeichnet, jüngst mit dem Preis der Günther-Peill-Stiftung, Düren (2024–2026), dem Dagesh-Kunstpreis (2023) sowie dem HAP Grieshaber-Preis der VG Bild-Kunst 2022.
Ernaux’ Satz vom Verschwinden aller Bilder findet sich auch in L’étoile de mer, einem Film von Maya Schweizer aus dem Jahr 2019. Doch bevor es soweit ist, taucht der Film ins Meer, genauer gesagt, ins Mittelmeer nahe der Kleinstadt La Ciotat bei Marseille. Er beginnt unter Wasser, schwebend inmitten von Fischen in den unterschiedlichsten Farben und Mustern. Auch wenn irgendwo Steine zu sehen sind, mit sanftem Grün überwuchert, ist nicht ganz klar, wo oben und wo unten ist. Es herrscht eine richtungsoffene Schwerelosigkeit. Doch schnell kommen in harschen, übergangslosen Schnitten andere Bilder in den Blick – leuchtende Tieraugen in der Nacht, eine Hand, die eine Versteinerung in die Kamera hält, riesige, herumliegende Turbinen. Künstlich und menschengemacht nehmen letztere die Strahlenform jenes Seesterns auf, dessen Name der Film im Titel trägt und mit dem er auf einen anderen, gleichnamigen Film von Man Ray aus dem Jahr 1928 verweist.
Der Titel ist nicht die einzige direkte Referenz an das vergangene 20. Jahrhundert, an seine Avantgarden und sein Leitmedium, das Kino. Wie Fragmente der Erinnerung scheinen in der Folge einzelne Bilder, bestimmte Sätze oder Sequenzen aus den Fluten des Mittelmeers aufzutauchen: der berühmte Zug, den die Gebrüder Lumière 1895/96 bei der Einfahrt in den Bahnhof ebenjenes Städtchens La Ciotat in Südfrankreich gefilmt haben, eine der Urszenen des Kinos; oder diverse Zwischentitel und Bilder aus Alain Resnais’ Letztes Jahr in Marienbad (1961), einem zentralen Film des europäischen Nachkriegskinos. „Erinnern sie sich?“, fragt eine aus der Tonspur dieses Films stammende Männerstimme wiederholt über Bilder der Nacht, nur um wenig später selbst zu antworten: „Sie haben alles schon vergessen.“
Seit beinahe zwei Jahrzehnten setzt sich Maya Schweizer in ihren vornehmlich filmischen Arbeiten nun schon mit Geschichte, dem Vergehen der Zeit und der komplexen Struktur der Erinnerung auseinander. In der stillen und berührenden Arbeit Manou, La Seyne sur Mer (2011) hat sie das Leben ihrer eigenen Großmutter im Altersheim und deren zunehmend fragmentarische Wahrnehmung der Welt thematisiert. In A Memorial, a Synagogue, a Bridge and a Church (2012) tastete sie in langen Einstellungen und mit suchendem Blick das Denkmal für die abgerissene Synagoge von Bratislava und dessen unmittelbare städtische Umgebung ab und machte dabei die Gleichzeitigkeit verschiedener Zeitschichten an einem Ort spürbar. In der Zweikanalprojektion Regarde par ici, … Und dort die Puschkinallee (2018) schließlich steht ein alter Wachturm auf der Grenze zwischen dem ehemaligen Ost- und dem Westteil Berlins im Zentrum. Im Großen und Ganzen (wenngleich nicht immer) folgen all diese Filme einer Logik des Orts, genauer, des Erinnerungsorts, wie sie der französische Historiker Pierre Nora in den 1980er-Jahren entwickelte: Der Ort, symbolisch aufgeladen von der Vergangenheit, wird zum festen Anker in einer unerbittlich vergehenden Zeit.
L’étoile de mer nun ist ein Film, der diesem fixierten (und fixierenden) Ort das Meer in all seiner Fluidität, seiner unabdinglichen und permanenten Wechselhaftigkeit und Durchlässigkeit entgegensetzt – und Wasser dabei passend als Bild für das Vergessen versteht. Dieses Vergessen ist ebenso sehr Grundvoraussetzung für ein Verhältnis zur Zeit und zum Vergangenen wie sein Gegenpart, die Erinnerung, auch wenn sich diese ungleich selbstverständlicher mit dem Begriff der Geschichte und des Zugriffs auf das Gewesene verknüpfen lässt. Man könnte, um auf kinematografische Begriffe zurückzugreifen, auch sagen: In der üblichen Konzeption von Geschichte ist das Vergessen auf eine Art das „hors-champ“, das Jenseits des Bildes: undefiniert und ohne feste Konturen, ein irgendwie unsichtbares, aber nichtsdestotrotz konstitutives Dahinter und Darum-Herum, gegen welches das Erinnerte als konturiertes und bestimmtes Bild hervortritt. Die Erinnerung: ein Stück Land, an das man sich klammert; das Vergessen: Wasser, das einen hinfort spült – ungreifbar, nicht verortbar, unendlich und niemals das Gleiche. Wo die Fluten des Vergessens kein Pardon zu kennen scheinen, zeigt sich die Erinnerung als aktives Dagegenstemmen.
Seit der Antike wird Wasser mit dem Vergessen assoziiert: In der griechischen Mythologie trinken die Verstorbenen auf ihrem Weg in die Unterwelt aus den Fluten des Flusses Lethe, um alles zu vergessen. „In seinem weichen Fließen lösen sich die harten Konturen der Wirklichkeits-Erinnerung auf“ und werden buchstäblich „liquidiert“, so der Literaturwissenschaftler Harald Weinrich. Erst dann sind die Seelen bereit für ein neues, ewiges Leben im Jenseits. Es ist das Vergessen, das den Neuanfang ermöglicht.
Zum einen gilt das zunächst einmal für Maya Schweizers Werk selbst, in dem mit L’étoile de mer und dem anfänglichen Eintauchen ins Mittelmeer ein neues Kapitel aufgeschlagen wird. Der ortsgebundenen Tiefenbohrung durch die Sedimente der Zeit wird nun ein kunstvolles, loses und laterales Verknüpfen zur Seite gestellt, ein hin- und herwogendes Ausbreiten. Und so schließen denn auch die Filme, die auf L’étoile de mer folgen – namentlich Voices and Shells (2020) sowie das prägnant betitelte Sans histoire (2023) –, unmittelbar an diese Beschäftigung mit dem Wasser an und spinnen sie weiter. Doch auch im weiteren Blick über werkimmanente Entwicklungen hinaus steht eine Arbeit wie L’étoile de mer an einem Umschlagpunkt, an dem sich angesichts der nun ubiquitären Verbreitung digitaler Medien längst auch die Modi des Erinnerns und Vergessens selbst sowie, damit einhergehend, der Umgang mit Geschichte und Geschichten ändern.
Dies fällt insbesondere auf, wenn man L’étoile de mer gegen Sans histoire stellt, den jüngsten Film der Künstlerin, der sich explizit mit Vorstellungen von der Zukunft beschäftigt. Geschichte – im Sinne einer erzählten oder auch nur erzählbaren – ist hier tatsächlich sehr viel schwerer auszumachen. Unterschiedslos scheinen die Dinge nebeneinander zu existieren, vermeintlich berührungslos und unverkoppelt lösen die Bilder sich ab, um endlos vorbeizuströmen. Sie sind zwar nicht ohne Bedeutung, aber vielleicht ohne eine übergreifende, die sich verfestigen würde. Anders gesagt: Wo sich das lateral verknüpfende, fluide Erzählen in L’étoile de mer in Ton und melancholischem Stil noch als Emanzipation von einem geradlinigeren Geschichtenerzählen – oder, in topografischen Termini: als Loslösung von einem festen Ort – interpretieren lässt, das ihm seine spezifische Kontur verleiht, hat sich Sans histoire von einer solchen Fassung und Richtung verleihenden Kontrastfolie verabschiedet. Angesichts der Bilder der Zukunft, die Sans histoire skizziert und die im Grunde eine hochtechnisierte digitale Gegenwart zeigen, erscheinen die Bilder in L’étoile de mer verstärkt als solche der Vergangenheit.
Aber, um noch einmal auf Annie Ernaux’ Anfangssatz zurückzukommen: Verschwinden deshalb gleich alle Bilder? Am Ende von L’étoile de mer sieht man einen Seestern, der sich mühsam streckt und umdreht. Dem entspricht in der letzten Sequenz von Voices and Shells das Bild einer Schlange, die sich häutet. Es sind Bilder des Umschlagens, des Neuanfangs, der Metamorphose und der Transformation. Doch auch wenn der Seestern sich dreht, sieht er von oben doch annähernd so aus wie von unten. Und auch wenn die Schlange sich häutet, kommt unter der alten Haut nichts radikal Neues oder Anderes hervor, sondern eben einfach eine neue Haut. Letztlich sind es nicht die Bilder an sich, die verschwinden. Im Gegenteil, es gibt mehr denn je davon, ein wahres Meer, eine sprichwörtliche Flut, die durch die digitalen Kanäle schwappt. Was aber sehr wohl verschwindet – gerade angesichts der Tatsache, dass mehr und mehr Bilder von Maschinen für Maschinen gemacht werden –, ist eine bestimmte Bedeutung jener Bilder, ist Geschichte im Sinne einer von Menschen gelebten, erlebten und belebten Zeit. Und auch wenn die Menschen des langen 20. Jahrhunderts allmählich aus den Bildern weichen, heißt das nicht, dass nicht andere kommen werden, um sie – neu und anders – wieder zu füllen.
Maya Schweizer lebt und arbeitet in Berlin. Ihre Arbeit war unter anderem in Einzelausstellungen bei Ortloff, Leipzig, Drawing Room, Hamburg (beide 2024), im Jüdischen Museum Berlin (2023), dem Deutschen Künstlerbund e. V., Berlin (2023), Loop, Barcelona, Spanien (alle 2023), bei ASPN Leipzig (2022), in der Villa Stuck, München (2020), oder bei al Spaziosiena, Siena, Italien (2019), zu sehen. Zudem nahm sie an Gruppenausstellungen wie Dazugehören! Belonging! im Kunsthaus Dresden (2024), Nature. Sound. Memory im Kunsthaus Baselland, Schweiz (2023), dem Basel Social Club, Basel, Schweiz (2023), Roma, a Portrait, Palazzo delle Esposizioni Museum, Rom, Italien (2023), Facing New Challenges, Heidelberger Kunstverein (2022), On the Quiet, Salzburger Kunstverein (2022), sowie an der Manifesta 13 in Marseille, Frankreich (2020), Today’s Yesterday, 1. Anren Biennale, China (2017), teil, um nur einige Beispiele aus den letzten Jahren zu nennen. Darüber hinaus wurden ihre Filme auf Festivals gezeigt, darunter 2022 und 2017 in der Sektion Forum Expanded der Berlinale – Internationale Filmfestspiele Berlin. Maya Schweizer wurde für ihre Arbeit mit zahlreichen Preisen und Stipendien ausgezeichnet, jüngst mit dem Preis der Günther-Peill-Stiftung, Düren (2024–2026), dem Dagesh-Kunstpreis (2023) sowie dem HAP Grieshaber-Preis der VG Bild-Kunst 2022.
Text Dominikus Müller
L’étoile de mer, 2019
HD Video, Farbe, Ton
11:00 Min.
Courtesy die Künstlerin und VG Bild-Kunst
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L’étoile de mer, 2019
HD Video, Farbe, Ton
11:00 Min.
Courtesy die Künstlerin und VG Bild-Kunst