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17.23 Pipilotti Rist
Ever Is Over All

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17.23 Pipilotti Rist
Ever Is Over All
1.12.–3.3.24
Veranstaltungsreihe im Rahmen der Ausstellung
Video in Dialogue
30.1. und 20.2.24
19–20.30 Uhr

Das Werk der Schweizerin Pipilotti Rist ist tief in der Populärkultur, der Medienrealität und der feministischen Videokunst verwurzelt. Ihre frühen Arbeiten aus den 1980er Jahren im Stil von Musikvideos zeichnen sich durch poppige Bilder aus, die collagenartig zu kurzen Clips montiert sind. Wiederkehrende Motive sind ungewöhnliche Perspektiven und das kontrastreiche Zusammenspiel von Menschen, Tieren, Natur, Apparaten und Maschinen, atmosphärisch unterlegt mit Text- und Musikfragmenten, aber auch mit ästhetisch-visuellen Störelementen.
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In vielen Arbeiten tauchen explizite Darstellungen weiblicher Körper(-teile) und Sexualität auf, die jedoch ambivalent und humorvoll gelesen werden können (Pickelporno, 1992; Homo Sapiens Sapiens, 2005). Darüber hinaus setzt sich Pipilotti Rist mit ihrer eigenen Rolle als Künstlerin und dem damit verbundenen möglichen Scheitern auseinander ((Entlastungen) Pipilottis Fehler, 1988; Pepperminta, 2009).

Ende der 1980er Jahre entstanden die ersten Videoarbeiten, in denen die Künstlerin selbst vor der Kamera agierte. Dabei verwendet Rist unscharfe Störbilder, Hintergrundgeräusche und selbstreferentielle Texte, die eine Hommage an die Anfänge der experimentellen Film- und Videokunst darstellen, aber auch die manipulativen Möglichkeiten der damaligen Bild- und Videoproduktion aufzeigen. International bekannt wurde Pipilotti Rist mit der hier gezeigten Videoinstallation Ever Is Over All, 1997, die sie für die 47. Venedig Biennale produzierte. In ihren späteren Arbeiten kombiniert sie diese Bildsprache mit vergrößerten Natur- und Alltagsaufnahmen, fragmentierten Körperbildern und komplexen Musikkompositionen. Mit der öffentlichen Projektion des Videos Open My Glade, 2000, auf dem Times Square in New York (2000/2017) erlangte sie eine breitere Rezeption und Aufmerksamkeit. Nicht minder spektakulär war die eigens als Deckenprojektion konzipierte Videoarbeit Homo Sapiens Sapiens, 2005, die im Rahmen der 51. Biennale von Venedig in einer barocken Kirche gezeigt wurde und wegen Obszönität vorzeitig geschlossen werden musste. 2009 wird Pipilotti Rists erster Spielfilm Pepperminta bei den Internationalen Filmfestspielen von Venedig gezeigt. Darüber hinaus inszeniert die Künstlerin für ihre Ausstellungen ortsspezifische Settings, die dem Publikum ein immersives Eintauchen und Erleben ermöglichen.

Die Videoinstallation Ever Is Over All besteht aus zwei sich überlagernden Projektionen: Auf der linken Seite ist eine Einzelaufnahme einer jungen Frau zu sehen, die in einem blauen Kleid, roten Schuhen und rotem Lippenstift sehr mädchenhaft wirkt. Fröhlich schreitet sie mit einer überdimensionalen Blumendolde über einen von Häusern und parkenden Autos gesäumten Bürgersteig. Im Kontrast dazu stehen Naturaufnahmen, die eine Blumenwiese mit exotischen Pflanzen zeigen. Beide Videos werden verlangsamt abgespielt, fast wie in Zeitlupe. Der magisch-suggestive Bilderfluss der beiden Szenen wird abrupt unterbrochen, als die Frau mit der langstieligen Blumendolde in der Hand gewaltsam eine Reihe von Autoscheiben zertrümmert. Auch die meditative Musik wird plötzlich durch das überlaute Geräusch zerbrechender Scheiben unterbrochen. Mit diesem Wendepunkt wird ein irritierender Schreckmoment inszeniert und mehrfach wiederholt. Eine vorbeilaufende Polizistin und eine Passantin in rotem Mantel drücken nonverbal ihre positive Zustimmung zu dieser Aktion im öffentlichen Stadtraum aus. Wie beiläufig und harmlos endet das Video, wie es begonnen hat.

Mit großer Leichtigkeit gelingt es der Künstlerin, widersprüchliche Momente zu erzeugen und damit auch das eigene Rollenverständnis und die eigenen Erwartungen zu entlarven. Aus der Distanz werden wir zum stillen Beobachtenden einer ungewöhnlichen Aktion und somit auch zur Komplizin oder zum Komplizen gemacht. Dabei konterkariert die Künstlerin geschlechtsspezifische Eigenschaften wie Aggressivität und Waffengewalt, indem sie die mädchenhaft wirkende Protagonistin damit ausstattet und sie diese öffentlich ausleben lässt. Einen weiteren Kontrast bildet die eingesetzte Waffe, eine phallusartige Blumendolde aus Metall, mit der Autoscheiben (das Patriarchat) eingeschlagen werden können – eine von vielen Interpretationen. Rists Arbeit verwandelt destruktive Energie in Hoffnung und ist ein feministisches Plädoyer für mehr Selbstbestimmung und Freiheit, das durch seine spielerische und subversive Ästhetik überzeugt.

Die Arbeit Ever Is Over All lässt sich nicht nur aus der Gegenwart und aktuellen Diskursen heraus interpretieren, sondern auch in eine kritische Praxis der feministischen Medienkunst einbetten. Insbesondere Künstlerinnen der Feministischen Avantgarde¹ beschäftigen sich mit der Frage, wie das traditionelle Frauenbild weibliche Stereotype und Identitäten in unserer Gesellschaft bestimmt. Dabei thematisieren sie den Gegensatz zwischen häuslicher und künstlerischer Arbeit, zwischen Produktion und Reproduktion, reflektieren die Rolle der Frau in einer von männlichen Stereotypen geprägten Berufs- und Medienwelt. Ein weiterer Schwerpunkt ist die Auseinandersetzung mit weiblicher Sexualität, dem eigenen Körper, Schönheitsnormen und Gewalt gegen Frauen. All diese Fragen und Themen bestimmen auch heute noch die soziale Realität vieler Frauen und sind Gegenstand künstlerischer Praxis.

So hat das Werk von Pipilotti Rist auch im Jahr 2023 aufgrund der immer noch ungleichen Geschlechterverhältnisse nichts von seiner Aktualität verloren, sondern ermöglicht eine überzeitliche Interpretation aus der Gegenwart heraus. Es handelt sich um ein vielschichtiges Werk feministischer Videokunst, das traditionelle Blick- und Geschlechterverhältnisse aufbricht und Video als Medium der Selbstermächtigung begreift.

Pipilotti Rist geboren 1962 in Rheintal (CH), lebt und arbeitet in Zürich (CH). Sie hat an der Hochschule für Angewandte Kunst in Wien studiert und an der Schule für Gestaltung in Basel den professionellen Umgang mit Video erlernt. Seit 1984 Arbeit mit Performance und Pop-Musik, u. a. als Mitbegründerin der Frauenband Les Reines Prochaines (1988–1994). Seit 1988 künstlerischer Schwerpunkt Video/Film und Videoinstallationen. Zu ihrem Werkkomplex gehören seit den 2000er Jahren auch Environments, Fotomontagen sowie Kunst am Bau bzw. Kunst im öffentlichen Raum, darunter in Berlin, Buchs, St. Gallen, Genf und Zürich. Zu ihren letzten Einzelausstellungen (Auswahl) gehören unter anderem: im Museum of Fine Arts Houston (US, 2023); im M+, Kowloon, Hong Kong (HK, 2023); in der Bechtler Stiftung, Uster (CH, 2022); im National Museum of Qatar, Doha, (QA, 2022); im Museum Boijmans Van Beuningen het Depot Rotterdam, Rotterdam (NL, 2021); im National Museum of Contemporary Art, Kyoto (JP, 2021); Museum of Contemporary Art, Los Angeles (US, 2021); in der Vleeshal, Middelburg (NL, 2020). Außerdem hat sie mit ihren Werken an zahlreichen Biennalen, Gruppenausstellungen, Biennalen und Festivals teilgenommen, darunter: in der Pinakothek der Moderne, München (2023); in der Julia Stoschek Foundation, Düsseldorf (2023); in der Kunsthalle Mannheim (2023); in der Fundació Joan Miró, Barcelona (ES, 2023); im Kunstmuseum Basel (CH, 2022); im Museum of Contemporary Art Antwerp, Antwerpen (BE, 2022); im ARKEN Museum for Moderne Kunst, Skovvej (DK, 2022) und im Kunstmuseum Wolfsburg (2022).

Text Cynthia Krell
Übersetzung Amy Patton

Ever Is Over All, 1997
Zwei-Kanal-Video
Farbe, Ton
4:07 Min.
Maße variabel
Ton Anders Guggisberg, Pipilotti Rist
Courtesy die Künstlerin, Hauser & Wirth und Luhring Augustine. © Pipilotti Rist
Video Stills © Pipilotti Rist / 2023, VG Bild-Kunst

Fotos Philipp Ottendörfer

¹Zu den bekanntesten Vertreterinnen der Feminstischen Avantgarde, darunter auch Video- und Filmemacherinnen und Performerinnen, gehören unter anderem: Eleanor Antin (*1935), Teresa Burga (1935-2021), VALIE EXPORT (*1940), Lynn Hershman Leeson (*1941), Ana Mendieta (1948-1985), Gina Pane (1939-1990), Friederike Pezold (*1945), Ulrike Rosenbach (*1943), Martha Rosler (*1943), Carolee Schneemann (1939-2019), Cindy Shermann (*1954), Hannah Wilke (1940-1993), Martha Wilson (*1947), u.v.a.

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