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9.22 Francis Alÿs
Children’s Game #12: Sillas musicales (Musical Chairs)

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9.22 Francis Alÿs
Children’s Game #12: Sillas musicales (Musical Chairs)
15.6.–14.8.22
Das Werk des belgischen Künstlers Francis Alÿs bewegt sich zwischen dem poetischen Geschichtenerzählen, der Absurdität des Alltags und dem kulturanthropologischen Beobachten seiner Umgebung. So entstehen seit über drei Jahrzehnten Gemälde, Zeichnungen, Skizzen, Künstlerbücher, Fotos, Objekte, Animationen und Videos, die oftmals in eigens konzipierten räumlichen Settings gehängt, in Vitrinen oder auf Tischen installiert werden. Mehr
Das Gehen im öffentlichen Raum ist seit Anfang der 1990er Jahre ein wesentlicher Bestandteil seiner Kunst. Dabei setzt er sich mit dem Alltag als Fremder (Europäer) in der Mega-City Mexiko-Stadt auseinander und greift deren historische und soziale Gegensätze auf. Seine Spaziergänge (Paseos) und die daraus entstandenen, teils sehr konzeptionellen Arbeiten, inszenierten Aktionen und Performances sowie fotografischen Serien machten ihn international bekannt. In seiner Doppelrolle als Beobachter und Teilnehmer, als Bewohner und Künstler, kartografierte Alÿs die Umgebung rund um sein Atelier in der Nähe des Zócalo über viele Jahre. Bei seinen Erkundungen dokumentierte er scheinbar beiläufig die politischen, sozialen und historischen Schichten seiner Wahlheimat und verwebte diese zu urbanen Fabeln.

Seit dem Jahr 1999 filmt Francis Alÿs Kinder auf der ganzen Welt beim Spielen. Seine Ausstellungstätigkeiten und Reisen führten ihn auf fast alle Kontinente dieser Erde, darunter waren sowohl friedliche als auch von Krisen geprägte Länder. Mittlerweile umfasst die Serie Children’s Games knapp über dreißig Videos, die chronologisch durchnummeriert werden. So schnipsen Kinder in Marokko flache Steine über das Wasser (#2), spielen Gummitwist in Frankreich (#4), lassen selbstgemachte Drachen in Afghanistan steigen (#10), spielen mit einem Stoffball in Nepal (#17), hüpfen jeweils über den Rücken eines anderen im Irak (#20), spielen im Kongo eine landestypische Mancala-Version (#26) oder veranstalten ein Rennen mit echten Schnecken in Belgien (#31). Die Kinder spielen selten allein, sondern meistens in Gruppen, teils gegeneinander oder auch auf kooperativer Ebene miteinander. Dabei handelt es sich einerseits um Spiele mit einem hohen Wiedererkennungswert, weil man sie aus der eigenen Kindheit kennt wie etwa Fangen, Seilspringen, Steine schnipsen, Drachen steigen lassen. Oder es sind andererseits eher landestypische Spiele, die sich geografisch konkret verorten lassen und sich daher nicht global verbreitet haben. Die Videos fokussieren sich auf die jungen Menschen und ihre Interaktionen im Spiel, oftmals als One-Take und aus der Perspektive der Kinder aufgenommen. Auf der Tonebene ist ausschließlich der O-Ton wahrnehmbar, der Künstler verzichtet dabei bewusst auf zusätzliche Erklärungen. Nur im Vorspann und Werktitel tauchen Hinweise auf den Ort der Aufnahme und das Spiel auf. Alle Filme changieren stark zwischen objektiver Dokumentation und teilnehmender Beobachtung, sie vermitteln aufgrund der Nähe zugleich die Leichtigkeit und Freude am Spiel.

Die Videoarbeit Children’s Game #12: Sillas musicales (Musical Chairs), Oaxaca, Mexiko, 2012, zeigt eine One-Take-Aufnahme aus der Vogelperspektive. Zu sehen ist wie sechs Kinder nacheinander fünf Klappstühle in einer Reihe aufstellen, um die Reise nach Jerusalem zu spielen. Mit dem Einsatz des Liedes „Tus Ojos Negros“ (dt.: Deine schwarzen Augen) der mexikanischen Band Super Lamas umkreisen die Jungen und Mädchen im Uhrzeigersinn die Stuhlreihe. Dann wird überraschend die Musik gestoppt und jedes Kind versucht sich möglichst schnell auf einen freien Stuhl zu setzen. So bleibt immer eine Person stehen, scheidet aus und nimmt einen Stuhl vom Spielfeld. Zuletzt gewinnt ein Mädchen gegen einen etwa gleichaltrigen Jungen. Von der Umgebung ist nicht viel zu erkennen, es dominiert ein trockener Erdboden. Nur zu Beginn und am Ende ist ein kurzer Hahnenschrei zu hören. Im Werktitel wird auf den Ort, Bundesstaat/Stadt Oaxaca, im Süden Mexikos hingewiesen.

Ähnlich wie ein Ethnologe betreibt Francis Alÿs bei Children’s Games eine Art künstlerische Feldforschung, ohne jedoch rein objektiv oder systematisch wissenschaftlich vorzugehen. Im Mittelpunkt seines subjektiven Interesses steht der Mensch als kulturelles und soziales Wesen, welches des Spielens willens spielt. Im Spiel wird über Ordnung und Chaos verhandelt, über den Konsens und den Dissens, zwischen Ich und dem Anderen, zwischen dem Einzelnen und den Vielen. Um ein soziales, kulturelles Wesen zu werden, muß jede*r diesen Lernprozess meistern. Der Künstler sieht auch eine Analogie zwischen seinem Werkansatz und zum Regelwerk eines Spiels: „Ich erkannte die Bedeutung, die Children’s Games als Inspiration hatte, nicht so sehr für die Drehbücher, sondern für den Mechanismus/die Struktur meiner Werke: die absurde Logik sehr klarer Regeln, die an sich nicht viel Sinn hatten. Ich bin nicht sehr gut darin, zu definieren, wonach ich suche, aber es ist glasklar, dass ich mich im Aus befinde. Kinderspiele sind so: In dem Moment, wo Du die Spielregeln nicht einhältst, werden sich Kinder bei Dir beschweren. Manchmal sind die Regeln nicht gut definiert, aber es gibt eine klare Grenze zwischen dem sich im oder außerhalb eines Spiels zu befinden.“¹

In seiner Kindheit war Francis Alÿs von dem Gemälde Die Kinderspiele, um 1560, von Pieter Bruegel der Ältere fasziniert, dass in seiner Opulenz und Detailgenauigkeit ebenfalls ein visuelles Archiv der Kinderspiele illustriert, welches es neu zu entdecken gilt. Ausgehend davon wird umso deutlicher, dass sich der Künstler auf das Universelle des kindlichen Spiels konzentriert und somit ein kulturelles Archiv der Kinderspiele anlegt – bevor diese als kulturelle Praxis verloren oder nicht mehr an die nächste Generation weitergegeben werden können. Das, was alle Menschen(-kinder) über alle Kulturen miteinander verbindet ist nicht nur das Spiel als eine Gattungseigenschaft des Menschen, oder das Spiel verstanden als Lebensexperiment und zentrales Medium des Lernens und Gestaltens, sondern auch die damit verbundene Zweckfreiheit des Spiels – so wie bei der Kunst.

Francis Alÿs (*1959 in Belgien) lebt und arbeitet in Mexiko-Stadt. Nach seinem Studium der Architektur widmet er sich der Kunstpraxis und drückt sich mittels Malerei, Zeichnung, Animationen und Videos aus. Seine Arbeiten thematisieren ethnologische und geopolitische Anliegen durch die Beobachtung und Auseinandersetzung mit dem Alltagsleben. Zuletzt war er an einer Reihe neuer Projekte im Irak beteiligt, die in der historischen Fiktion Sandlines: the Story of History, 2018–2020, gipfelten. Seine Children’s Games-Serie (seit 1999) ist eine Anthologie von spielenden Kindern auf der ganzen Welt. Für die Präsentation im Belgischen Pavillion im Rahmen der 59. Venedig Biennale wurden eine Reihe neuer Filme in der Demokratischen Republik Kongo, in Belgien, Kanada und Hongkong produziert und in Kombination mit Gemälden und Zeichnungen ausgestellt. Alÿs hat in renommierten Museen und Kunstinstitutionen weltweit ausgestellt und ist mit seinen Werken in bedeutenden Sammlungen vertreten.

Children’s Game #12: Sillas musicales (Musical Chairs), Oaxaca, Mexiko, 2012
Einkanal-Video, Farbe, Ton
5:05 Min.
In Kollaboration mit Elena Pardo und Félix Blume
Courtesy der Künstler und Galerie Peter Kilchmann, Zürich
Text Cynthia Krell
Übersetzung Amy Patton

¹ Originalzitat: „I realized the importance that children’s games had had as an inspiration not so much of the scripts but of the mechanics of my works: the absurd logic of very clear rules which did not have much sense in themselves. I am not very good at defining what it is that I am looking for, but it is crystal clear when it is that I am out of bounds. Children’s games are like that: the moment you step out of the rules of the game children will complain to you. Sometimes rules are not well defined, but there is a clear limit between being in or outside of a game.“ Cuauhtémoc Medina: A Collection of ‛Innumerable Little Allegories’ ‒ Francis Alÿs’s Children’s Games, in: Francis Alÿs, Children’s Games, (Ausst.-Kat. Amsterdam, Eye Filmmuseum), hg. von Marente Bloemheuvel und Jaap Guldemond, Amsterdam 2020, S. 14–15

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