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14.23 Julien Creuzet
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14.23 Julien Creuzet
Assidule
15.5.–14.7.23
Julien Creuzet, 1986 in einem Pariser Vorort geboren, ist ein französischer Künstler, dessen Werk stark von seiner Kindheit auf Martinique geprägt ist. Aufgewachsen auf der Karibikinsel, wo verschiedene Kulturen aufeinandertreffen, spiegelt Creuzets Werk die Verschmelzung afrikanischer, indigener und europäischer Traditionen wider. Seine oft raumgreifenden Installationen aus Skulpturen, Bild-Displays, Sound- und Videoarbeiten sind stark von seiner Biografie und seinen kulturellen Einflüssen geprägt. Mehr
Er verwendet sowohl gefundene Objekte und Materialien als auch kulturell kodierte Alltagsgegenstände. Seine künstlerische Praxis geht jedoch nicht nur von seinen eigenen Erfahrungen aus, sondern ist vielmehr ein Echo auf die kollektiven sozialen Realitäten der karibischen Diaspora. Julien Creuzet konzentriert sich auf die problematische Schnittstelle zwischen karibischer Geschichte und europäischer Moderne. Die visuellen und akustischen Sprachen, die in seinen Installationen zusammentreffen, bewegen und transformieren sich durch einen Prozess der Kreolisierung. Sie treten in einen Dialog mit der Frage der Emanzipation, dem Geist schwarzer Selbstbehauptung und dem Gefühl seiner Diaspora-Erfahrung. Julien Creuzet hat eine künstlerische Praxis entwickelt, die auf poetische, sinnliche und emotionale Weise mit den Betrachter:innen interagiert, um die eigenen kulturellen Selbstverständlichkeiten, Privilegien und Codes zu hinterfragen.

Die Videoarbeit Assidule, 2019, ist ein hypnotisches Werk, das die Kollision von Begegnungen als Ansteckung interpretiert und inszeniert. 3D-Objekte, die Goldplättchen oder Geld ähneln, bewegen sich durch eine höhlenartige Arterie eines Lebewesens und kreuzen sich dort mit einem Messer, der französischen Nationalflagge und einem Schiff voller gestapelter Frachtcontainer. Es folgen kontrastreiche, teils surreal-skurrile Bildlandschaften, die abwechselnd eingeblendet werden: ein schwarzes, unendliches Universum voller unbekannter umherschwirrender Objekte wie etwa zuckende und bunte Pillen ausspuckende Bananen, eine stark verpixelte Tanzszene mit nicht erkennbaren Personen in Rot und Schwarz, unterlegt mit Textzeilen, pulsierende Bananenstauden in einem immergrünen Bananenpalmenwald, animierte weibliche und männliche Geschlechtsteile umgeben von Flugzeugen. Diese visuellen Eindrücke wecken vielfältige Assoziationen, erinnern an (natur-)wissenschaftliche Erklärfilme, an Musikvideos der 1990er Jahre, an surreale Traumsequenzen oder an fantastische Computerspielelandschaften. Dennoch entziehen sich diese Bilder unserer rationalen Einordnung und es bleibt ein offener, opaker (Erzähl-)Raum, der dadurch eigene Emotionen und Erinnerungen erzeugt. 

Julien Creuzets poetische Reflexionen über rassifizierte Körperlichkeit nehmen uns mit auf eine Reise durch eine atemberaubende, kinetische visuelle Landschaft, begleitet von einem Soundtrack, der das afrikanische Erbe des Künstlers unterstreicht. Der Liedtext ist auch der Werktitel einer Skulptur, die zeitgleich zum hier gezeigten Animationsfilm entstanden ist: Mon corps, carcasse, se casse casse casse / Mon corps canne à sucre flèche flèche flèche / Mon corps banane est en larme larme larme / Mon corps peau noire, au coucher du soleil, / ne trouve le sommeil / Mon corps plantation poison / Mon corps plantation poison / Mon corps plantation / Demande la rançon / La pluie n’est plus la pluie / La pluie goutte aiguille / La pluie acide pesticide / La pluie infanticide / Mon père vivait près de la rivière / La rivière était à la lisière / Du champ de banane pour panam / Banane rouge poudrière / Sous les tropiques du Cancer, 2019.¹ Der Text wurde eigens dafür geschrieben und mit einer dynamischen und fröhlichen Afro-Pop-Musik untermalt. Eine Anspielung auf die Musikkulturen der Karibik, in der sich Fröhlichkeit und Traurigkeit vermischen. Der Liedtext transportiert jedoch eine widersprüchliche Geschichte, die auf eine historisch reale Umweltkatastrophe auf Martinique und Guadeloupe zurückgeht. Damals wurde zwischen 1972 und 1993 Chlordecon, ein Pestizid, zur Bekämpfung eines Bananenschädlings eingesetzt. Dieses verseuchte Böden, Flüsse und Grundwasser, was schwerwiegende gesundheitliche und ökologische Folgen für die Menschen vor Ort hatte.

In der Videoarbeit Assidule tauchen wiederkehrende Themen und Bezüge des Künstlers auf, die sein Werk prägen: So verweist Julien Creuzet auf das positive und kreative Potential der Kreolisierung (bezeichnet heute den Zustand kultureller Vermischung). Dabei bezieht er sich immer wieder auf den in der Karibik geborenen Schriftsteller und Kulturphilosophen Édouard Glissant (1928–2011), der als Vordenker zu Fragen postkolonialer Identität und Kulturtheorie gilt. Der Künstler begründet sein Interesse wie folgt: „Ich bevorzuge den Begriff ‚Kreolisierung‘. Er ist viel passender, weil er das Aufeinandertreffen verschiedener Kulturen widerspiegelt und zeigt, wie kulturelle Begegnungen neue Dinge hervorbringen können, anstatt sie zu konsumieren, wie in der historisch belegten Beziehung des Siedlerkolonialismus. Kreolisierung basiert für mich auf einem Verständnis der Positionierung des Körpers als Kontaktpunkt beim Aufbau von Erfahrungsmacht und Selbstbestimmung.“² Dieser Ansatz zeigt sich auch in dem Video, wo Bilder- und Tonwelten, sowie Körperlichkeiten aus verschiedenen Kulturen miteinander kombiniert werden. Er fasst seine Intention wie folgt zusammen: „Bilder von Begegnungen zu schaffen, unwahrscheinliche Bilder, kann die Vorstellungskraft aller anregen. Ein Behälter, eine Fahne und eine Machete in einer Höhle sagen also eine Menge aus. Für mich ist es wichtig, den interpretativen Teil jedes Elements nicht zu reduzieren. Die Kreolisierung als Ansteckung zu kontextualisieren, gibt der Komplexität und den Parametern des Seins einen gewissen Spielraum, vor allem für diejenigen, die damit vertraut sind, verschifft und überwacht zu werden.“³ Die beschriebenen Prozesse der kulturellen Vermischung, Identitäten und Narrative sind für westlich sozialisierte Betrachter:innen oftmals nicht Teil der eigenen Biografie und somit nicht als eigener Erfahrungshorizont nachvollziehbar. Umso wichtiger, dass Künstler:innen aus dem globalen Süden durch ihren Blick den dringend notwendigen Perspektivwechsel ermöglichen, um der kulturellen Dominanz des Westens entgegen zu treten.

Ganz wesentlich für die künstlerische Praxis von Julien Creuzet ist auch der Prozess der Poetisierung, die er mit den folgenden Worten beschreibt: „Das ist derselbe Grund, warum ich das poetische Format meiner Titel bevorzuge: Die Poesie bietet die Möglichkeit, eine andere Stimme zu verwenden. Die Vielzahl der Formen und Materialien schafft diesen Freiraum, ohne den die Kunst keinen Sinn hat. Sie bietet mir auch die Möglichkeit, der ständigen Tendenz zu widerstehen, zu erklären, was ich tue, wie ich es tue oder für wen ich es tue, und mich mehr auf die befreienden Aspekte der Phantasie, des Spiels, der Form und des Gefühls zu stützen.“⁴ Wer sich auf Julien Creuzets Bildwelten einlässt, kann diesen Möglichkeitsraum erfahren und daran teilhaben, wie neue Erzählungen und Freiräume entstehen, die den eigenen Wahrnehmungs- und Erfahrungshorizont erweitern. 

Julien Creuzet (geb. 1986, Le Blanc-Mesnil, Frankreich) lebt und arbeitet heute in Paris. Er studierte an der École supérieure d’arts & médias de Caen/Cherbourg, absolvierte ein Postgraduiertenstudium (Bildende Kunst) an der École nationale supérieurre des beaux-arts de Lyon und an dem Le Fresnoy – Studio national des arts contemporains. Zuletzt hatte Julien Creuzet Einzelausstellungen im Luma Arles, Frankreich (2022), im Camden Art Centre, London, Vereinigtes Königreich (2022), im Centre Pompidou für den Prix Marcel Duchamp, Paris, Frankreich (2021), im Palais de Tokyo, Paris, Frankreich (2019), im CAN Centre d’art Neuchâtel, Schweiz (2019) und in der Fondation d’entreprise Pernod Ricard, Paris, Frankreich (2018). Er nahm an verschiedenen Gruppenausstellungen und Biennalen teil, darunter im Museum of Contemporary Art Chicago, USA (2022), im Museum Tinguely, Basel, Schweiz (2022), im KAI10, Düsseldorf (2021), im SAVVY Contemporary, Berlin (2021), im Wiels Contemporary Art Centre, Brüssel, Belgien (2021), im Rahmen der Manifesta 13, Marseille, Frankreich (2020), der Kampala Biennale, Uganda (2018) und der 12. Gwangju Biennale, Südkorea (2018).

www.juliencreuzet.com

Text Cynthia Krell
Übersetzung Amy Patton

Credits zum Video
Assidule, 2019
HD-Video, Farbe, Ton
07:43 Min.
Courtesy der Künstler, DOCUMENT Gallery, Chicago, Andrew Kreps Gallery, New York und High Art, Paris / Arles.

Musik Mo Laudi
Visuals Pierre Le Cann
Mit Unterstützung von Fondation d’entreprise Ricard, Nuit Blanche 2019

¹ Eigene Übersetzung: Mein Körper, ein Gerippe, bricht auseinander bricht auseinander bricht auseinander / Mein Zuckerrohrkörper Pfeil Pfeil Pfeil / Mein Bananenkörper weint weint weint / Mein Körper schwarze Haut, bei Sonnenuntergang, / kann nicht schlafen / Mein Plantagengiftkörper / Mein Plantagengiftkörper / Mein Plantagenkörper / verlangt Lösegeld / Der Regen ist nicht mehr der Regen / Der Regen tropft Nadeln / Saurer Regen Pestizid / Kindsmörderischer Regen / Mein Vater lebte am Fluss / Der Fluss war am Rand / Vom Bananenfeld für Panam / Rote Banane Pulverfass / In den Tropen des Krebses

² Pieterson, Mark: „REFRAMING OCEANIC TOPOLOGIES Mark Pieterson in conversation with Julien Creuzet“, in: Texte zur Kunst, Online-Artikel, 29. September 2022, https://www.textezurkunst.de/de/articles/mark-pieterson-with-julien-creuzet-reframing-oceanic-topologies/

³  Pieterson, Mark: „REFRAMING OCEANIC TOPOLOGIES Mark Pieterson in conversation with Julien Creuzet“, in: Texte zur Kunst, Online-Artikel, 29. September 2022, https://www.textezurkunst.de/de/articles/mark-pieterson-with-julien-creuzet-reframing-oceanic-topologies/

⁴  Pieterson, Mark: „REFRAMING OCEANIC TOPOLOGIES Mark Pieterson in conversation with Julien Creuzet“, in: Texte zur Kunst, Online-Artikel, 29. September 2022, https://www.textezurkunst.de/de/articles/mark-pieterson-with-julien-creuzet-reframing-oceanic-topologies/

 

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