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13.23 Sven Johne
A Sense of Warmth

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13.23 Sven Johne
A Sense of Warmth
15.3.–14.5.23
„Ich konnte nicht mehr richtig schlafen. Wochenlang. Millionen Gedanken im Kopf, ständiges Grübeln: Job, Geld, Beziehungen. Scheiß Selbstverwirklichung. Woran sonst denkt ein Mensch in der modernen westlichen Welt – außer an seine Unvollkommenheit?“ Mit diesen persönlichen Worten bringt eine junge Frau ihre Selbstzweifel in dem Video A Sense of Warmth, 2015, auf den Punkt. Doch das ist nur der Anfang einer tiefer gehenden Gedankenspirale über das Ich der Hauptfigur, das in Versagensängsten und Identitätskrisen gefangen ist. Mehr
Zu diesen Selbstaussagen kontrastieren fast meditative, schwarz-weiße Naturaufnahmen: am Himmel fliegende Vogelschwärme, die sich immer wieder neu formieren, verwilderte Landschaften mit Bäumen und Sträuchern sowie eine lange Überfahrt mit einem Fischerboot (Mindy) vom Festland zu einer unbekannten Insel. Diese Naturbilder zeugen vom Neuanfang auf der Naturschutzinsel und lassen uns aus der Perspektive der Erzählerin die schlichte Schönheit der Natur wahrnehmen, die sinnbildlich für den Aufbruch in ein besseres, nachhaltiges Leben steht. 

Mit der Ankunft auf der Naturschutzinsel verdichtet sich die scheinbar autobiografische Erzählung der Hauptfigur, einer 33-jährigen Diplompsychologin namens Melinda, genannt Mindy. Auf der dort ansässigen Beringungsstation arbeiten Freiwillige an der wissenschaftlichen Erfassung von Zugvögeln. Sehr detailliert beschreibt sie die dort nachhaltig lebende Selbstversorgergemeinschaft mit all ihren Vorzügen: „wir leben hier ohne Supermarkt, ohne Lärm, ohne TV. Wir leben hier ohne Internet, ohne Social Media. Wir leben ein sehr simples Leben.“ In ihrer Stimme liegt eine nachvollziehbare Begeisterung für diese zurückgezogene Lebensweise, da sie konsequent abgeschirmt von den Konsumzwängen, kapitalistischen Mechanismen und Selbstoptimierungszwängen der westlichen Welt zu sein scheinen und ein angstfreies Leben leben. Dennoch ahnt man unbewusst, dass ein perfektes Glashausleben nicht existiert.

Akribisch schildert die Erzählerin die einzelnen Arbeitsschritte, die bei der Erfassung der Zugvögel in der Beringungsstation anfallen: Vögel aus den Fangnetzen befreien, untersuchen, wiegen, vermessen, beringen, wieder freilassen und alle dazugehörigen Daten auf dem Computer erfassen. Der paradiesische Zustand bekommt nach zwei Jahren einen gewaltigen Riss, denn durch eine prozessoptimierte Auswertung und Analyse der Daten wird das biologische Problem der „Invasion“ sichtbar. Dabei handelt es sich um Zugvögel, die sich auf der Insel angesiedelt haben und mit ihrer Ausbreitung das Ökosystem der Insel durcheinander bringen, aber auch die Existenz des gesamten Naturschutzprojektes gefährden. Die pragmatische Lösung besteht darin, Vögel, die sich zum dritten Mal in den Netzen verfangen, zum Einschlafen hängen zu lassen, um somit die Datenbasis grundlegend zu „korrigieren“.

An mehreren Stellen im Film wird die Ambivalenz und Brüchigkeit des guten Lebens auf der Insel, trotz ihrer Naturnähe und Abgeschiedenheit, deutlich spürbar. Auf der einen Seite steht der manipulative Eingriff des Menschen in das Ökosystem der Insel, der das Naturschutzprojekt auf Kosten der Natur und der Doppelmoral legitimiert. Zum anderen findet auf der persönlichen Ebene ein Sinneswandel der Protagonistin statt, die ihr eigenes Gewissen dem Dogma eines guten Lebens und sinnvollen Handelns unterordnet. Mit dem Verliebtsein der Protagonistin findet der Film seinen Höhepunkt. Beim Abnehmen der toten Vögel aus den Fangnetzen erinnert sie sich an die Wärme, die sie bei der Überfahrt auf die Insel verspürte, und daran „wie das Leben zurückkehrte“. Ein paradoxes Gefühl, so nahe beieinander wie das pralle Leben und der leise Tod.

Der Widerspruch wird aber durch die romantische Liebe nicht aufgehoben, sondern überhöht und verschleiert nur die Manipulation und das Gottspiel des Menschen. Sven Johne verdichtet dieses unauflösbare Dilemma, indem die Kamera gnadenlos und in Nahaufnahme die im Netz verhedderten, teilweise noch zuckenden Vögel aufnimmt. Die Vögel versuchen sich zunächst noch mit aller Kraft zu befreien, doch mit zunehmender Erschöpfung resignieren sie, um sich dann ein letztes Mal aufzubäumen. Diese Bilder könnten einen lauten Schrei der Empörung oder ein Gefühl der Ohnmacht auslösen – beim Anblick einer solchen Grausamkeit, die von Menschen verursacht wurde. Sie provozieren und fordern uns auf, uns dazu zu positionieren, egal ob sachlich distanziert oder emotional berührt.

Was bleibt, ist ein Unbehagen an den Widersprüchen des Lebens, die es moralisch auszuhalten gilt, ein Schwebezustand zwischen Fiktion und Dokumentation, ein Ausbalancieren von Distanziertheit und Involviertheit. Auf fast unspektakuläre Weise verhandelt Seven Johne sowohl persönliche als auch gesellschaftliche Herausforderungen unserer Zeit, schafft einen disruptiven Resonanzraum, um das eigene Selbstverständnis, Denken und Handeln zu reflektieren. Die absurde, hilflose Isolation der Protagonistin und ihre Flucht in die Liebe erscheinen jedoch bald beunruhigender als die Grausamkeit des Menschen.

Sven Johne konstruiert in seinen Fotografien, Text-Bild-Serien, Filmen und Videos komplexe Erzählungen, die das Verhältnis von Fiktion und Dokumentation ambivalent verhandeln. Oft wird bewusst ein diffuser Schwebezustand erzeugt, der in Verbindung mit heroischen, aber auch teilweise tragischen Identitätsfiguren und deren Geschichten mit regionaler Verortung, aktuelle Herausforderungen und Fragen unserer Zeit aufgreift. Dennoch gibt es wiederkehrende Motive und Themen, die den Künstler seit Anfang der 2000er Jahre beschäftigen, wie die ostdeutsche Geschichte, die Wechselwirkung von Topografie, Geschichte und Mensch, die Analyse menschlicher Charaktere sowie das Wechselspiel von Fiktion und Dokumentation. Aber auch aktuelle politische Ereignisse oder globale Phänomene werden von Sven Johne in seinen Arbeiten aufgegriffen und durch Überzeichnung in Szene gesetzt. Durch das Archetypische in Verbindung mit berührenden Biografien erreicht der Künstler einen hohen Identifikationsgrad, der das historische oder regionale Geschehen in einen globalen Kontext stellt und somit auch für die Gegenwart von Bedeutung ist.

Sven Johne (*1976 in Bergen, lebt und arbeitet in Berlin) studierte an der Universität Leipzig, an der HGB Leipzig und am International Studio and Curatorial Program ( ISCP) in New York. Zuletzt hatte er Einzelausstellungen u.a. in der Kunstsammlung Jena (2022), in der Galerie Nagel Draxler, Köln (2022), im Kunstmuseum Kloster Unserer Lieben Frauen, Magdeburg (2021), im MUDAM, Luxemburg (2021), (mit Falk Haberkorn) in der Galerie Klemm’s, Berlin (2019), im HMKV / Hartware Medienkunstverein (Video des Monats), Dortmund (2019) und im Hessischen Landesmuseum, Darmstadt (2019). Er nahm an verschiedenen Gruppenausstellungen teil, darunter an der 12. Berlin Biennale, Berlin (2022), in der Kunststiftung DZ Bank, Frankfurt am Main (2022), im Museum Morsbroich, Leverkusen (2022), in der MAST Collection / Fondazione MAST, Bologna, Italien (2022), in der Weserburg Museum für moderne Kunst, Bremen (2021), im Ludwig Forum für Internationale Kunst, Aachen (2020), in der Philara Collection, Düsseldorf (2020), an der Karachi Biennale, Pakistan (2019), an der Riga Biennale RIBOCA, Riga, Lettland (2018) sowie an der Triennale der Photographie, Hamburger Kunsthalle, Hamburg (2018).

Text Cynthia Krell
Übersetzung Amy Patton

A Sense of Warmth, 2015
HD-Video, s/w, Ton
15:35 Min.
Courtesy der Künstler und Nagel Draxler Galerie, Berlin / Köln / München und Galerie Klemm’s, Berlin

Drehbuch und Regie Sven Johne
Erzählerin Laura Wilkinson
Kamera Steve Kfoury
Schnitt Sven Voß, Sven Johne
Übersetzung Dawn Michelle d’Atri

 

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