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12.23 Tiffany Sia
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12.23 Tiffany Sia
Scroll Figure #3, Scroll Figure #4
15.1.–14.3.23
Tiffany Sia ist Künstlerin, Filmemacherin und Autorin. Ihre künstlerische Praxis basiert auf einer intensiven Schreib- und Forschungspraxis. Dabei ist sie daran interessiert, Spannungen durch multidisziplinäre Formen zu erzeugen, um hartnäckige Vorstellungen von Geografie, Genre und Zeit zu hinterfragen. Ihre jüngsten Arbeiten, die Filme, Videos, Fotografien und Künstler:innenbücher umfassen, untersuchen die Politik und Beziehungen der Medienzirkulation sowie die Geschichten von (Hafen-)Städten. Mehr
Einige ihrer filmischen Arbeiten haben einen starken Bezug zu den aktuellsten Ereignissen in ihrer Geburtsstadt: Never Rest/Unrest, 2020, ist ein experimenteller Kurzfilm über den Zeitraum vom Frühsommer bis Ende 2019 in Hongkong. Auf einem tragbaren Mobilgerät aufgenommen, zeigt es das, was die Künstlerin als „mehrdeutige, anachronistische und oft banale Zeit“ bezeichnet hat. Tiffany Sias Kurzfilm Do Not Circulate, 2021, entstand als ein Video-Essay bestehend aus einer einzigen Medien- und Bilderspur rund um die Proteste in 2019. Sein Voiceover verwebt Leaks, Gerüchte und okkulten Aberglauben in einer einzigen Zeitleiste. Mit A Road Movie is Impossible in Hong Kong, 2021, unternahm die Künstlerin den Versuch eines einwöchigen, episodenhaften Livestream-Landschaftsfilm, der das Genre eines Roadmovies in Hongkong neu erfinden wollte.

Die Videos Scroll Figure #3 und Scroll Figure #4, sind Teil einer vierteiligen Serie. Sie analysieren das Spannungsverhältnis von Bild und Text, quer durch alle Epochen und Kulturen hinweg. Jede Videoarbeit fokussiert jeweils ein spezifisches Thema, dazu gehören die Zeitangaben und Kriegsmacht, die Netzwerkverbreitung von Bildern in den neuen Medien, das Mysterium der Städte und Landschaft(en). Alle Videoarbeiten aus der Serie sind formal gleich aufgebaut: Die Präsentation des Videos auf einem kleinformatigen Bildschirm im 4:3 Format, abgeklebt mit einer dunklen Sicherheitsfolie, erlaubt jeweils einer frontal einsehenden Person die Videoarbeit wahrzunehmen. Dadurch entsteht ein intimer Moment bei der Kunsterfahrung – ähnlich wie beim Lesen eines Buches. Wie bei einem Teleprompter, läuft jeweils ein von der Künstlerin erstellter Text, über verschiedene Archiv-Filmaufnahmen aus den 1960er und 1970er Jahren. Dabei enthalten die Texte sowohl Zitate von bekannten Schriftsteller:innen und Philosoph:innen als auch Textbausteine der Künstlerin. Die im Hintergrund laufenden, teils verpixelten Bilder erscheinen aufgrund ihrer grobkörnigen Auflösung nahezu malerisch. Sie stehen im Kontrast zu den heutigen, scharf gestochenen digitalen HD-Bildern. Es könnte sich hierbei um Original-Super 8 oder 16mm-Filme handeln, die im 4:3 Format gefilmt wurden.

Scroll Figure #3 nimmt eines der bekanntesten chinesischen Gemälde in den Fokus: Bild einer Flussuferszenerie zum Qingming-Fest, 12. Jahrhundert, des Malers Zhang Zeduan (1085–1145). Die Bildrolle (24,8 x 528,7 cm) stellt verschiedene Szenen des Alltags in der nördlichen Hauptstadt der Song-Dynastie (heute Kaifeng) während des chinesischen Totengedenktags Qingming dar. Neben dem ländlichen Leben, bildet das Hauptmotiv die Darstellung des vormodernen Stadtlebens mit detailreichen Straßenszenen. Die Künstlerin nimmt in Scroll Figure #3 motivisch Bezug auf das Gemälde: Die verwendeten Stadtansichten stammen aus den 1960er und 1970er Jahren. Sie zeigen sich wiederholende Szenen von vielen Menschen in der Stadt bei alltäglichen Aktivitäten, Häuser-Fassaden und Werbung, vorbeifahrende Autos auf einer mehrspurigen Autobahn, sowie eine Fluß-Landschaft. Durch das gedrungene 4:3 Bildformat, wird die Enge und Geschwindigkeit der Stadt bildlich spürbar. Im Kontrast dazu steht der inhaltlich dichte Lauftext, der kontinuierlich die Aufmerksamkeit der Rezipient:innen einfordert. Der Video-Essay nimmt das berühmte Rollbild als Ausgangspunkt, thematisiert die unsichtbaren Seelen der Verstorbenen, die durch die Stadt wandern, sinniert über die mediale Analogie zwischen den chinesischen Rollbildern und der Filmrolle, führt weiter zu einem Zitat des italienischen Schriftstellers Italo Calvino (1923–1985) aus seinem Prosa-Werk „Le città invisibili“ (dt. „Die unsichtbaren Städte“) von 1972, beschreibt den Himmel spiegelnde Hochhäuser-Fassaden sowie die Dominanz von Spiegelungen, Displays und Bildschirmen im heutigen Stadtbild-Raum. Hierzu passend auch das Zitat von der Künstlerin über den filmischen Charakter eines chinesischen Rollbildes: „Eingebettet in die Bildrolle ist filmisches Denken: die langsame Kamerafahrt über eine weite Landschaft, die verschiedene Zeiten auf einer linearen Ebene zeigt, die wechselnden Perspektiven und die perspektivische Verkürzung des Bildes, die Bearbeitung und Fokussierung auf einen Ausschnitt.“¹

In Scroll Figure #4 untersucht die Künstlerin das Motiv des Wasserfalls in der Landschaft und die kulturell codierte Rezeption des Erhabenen beim Betrachten von Natur und Landschaft. Die verwendeten Videos zeigen Aufnahmen von Wasserfällen aus unterschiedlichen Perspektiven und lassen das gewaltige Naturspektakel jeweils nur erahnen. Teilweise ist in Ausschnitten die Umgebung zu erkennen, teilweise verliert sich das Auge in den rauschenden, unscharfen Wassermengen, die dann zu abstrakten Farbflächen werden. Drei Wasserfälle werden namentlich erwähnt, aber welche zu sehen sind, bleibt unbekannt: die Iguazú-Wasserfälle (Argentinien/Brasilien), der Xiao Wulai Wasserfall (Taiwan) und die Urami-Wasserfälle (Japan). In einigen Szenen sind neben Flora und Fauna, einmal Schmetterlinge und Häuser deutlich zu erkennen, Menschen sind hingegen nicht sichtbar. 

Der Text bewegt sich bei Scroll Figure #4 vorwiegend auf einer medienreflexiven Metaebene zur Analogie von Wasserfall und Film. Zu Beginn wird über die Bedeutung der Betrachter:innen-Perspektive verhandelt, anschließend wird der französische Philosoph und Medientheoretiker Jean Baudrillard (1929–2007) zitiert. Die Künstlerin verwendet Baudrillards Ausführungen über die Iguazú-Wasserfälle, um exemplarisch das menschliche Eingreifen und die mediale Inszenierung von solchen Naturphänomenen aufzuzeigen. Der Video-Essay endet mit Anmerkungen über den jahrhundertelangen, historisch geprägten Wahrnehmungsprozess von Landschaft durch das westliche Konzept des Erhabenen („Sublimen“) in der Natur, dabei konstatiert sie: „Es gibt eine Menge Bedeutung, die man auf solche Landschaftsmysterien projizieren kann.“ Dabei wird deutlich, dass das was wir heute mit Landschaft meinen, immer nur ein kulturell geprägter Ausschnitt ist – wie auch ein Bild, ein Film und der damit verbundene Rezeptionsprozess. Um das Erhabene aus dem Feld der Poesie exemplarisch aufzuzeigen, zitiert sie weiterhin ein Gedicht des japanischen Haiku-Meisters Matsuo Bashō (1644–1694), der die Urami-Wasserfälle aus einer dahinter liegenden Höhle poetisch beschreibt: „Schweigend eine Weile in einer Höhle/ beobachtete ich einen Wasserfall,/ Eine der ersten/ Beobachtungen des Sommers.“

Durch die Kombination von Text- und Bildelementen aus unterschiedlichen medialen Kontexten und Epochen, schafft Tiffany Sia neue intermediale und interkulturelle Narrative, die westlich zentrierte Wahrnehmungsmodi und Lesarten von Bildern oder Filmen in jeglicher Form konterkarieren. Sie hinterfragt die Grenzen des Mediums Bild und erweitert den westlich zentrierten Interpretationsraum durch Querbezüge aus dem ostasiatischen Raum.

Das Bindeglied und die Rolle der Interpretierenden übernehmen die Betrachter:innen, zumeist als Einzelperson, da erst ihre kulturell geprägte Wahrnehmung ihnen Zeitlichkeit und körperliche Präsenz – insbesondere im öffentlichen Raum – verleiht. Doch mit der Gleichzeitigkeit von Text und Bild werden die Betrachter:innen beim Akt des Lesens und Sehens teilweise bewusst überfordert und dabei auf sich selbst zurückgeworfen. So wie der Text und die Bilder ähnlich wie ein Echo nachhallen, umso mehr drängt sich eine Revision/Relektüre der eigenen Wahrnehmungsmodi und kulturellen Aneignungen in einer globalen Welt der medialen Bildzirkulation und Narrative auf. 

Tiffany Sia (*1988 in Hongkong, lebt und arbeitet in New York) hat am Bard College (US) und an der Qingdao University (CN) studiert. Zuletzt hatte sie Einzelausstellungen, unter anderem in der Galerie FELIX GAUDLITZ, Wien (2022) und im Artists Space, New York (2021). Mit ihren Werken nahm sie an verschiedenen Gruppenausstellungen und Screenings teil, darunter am MoMA, New York (März 2023), im Seoul Museum of Art, Seoul (2022), im Kunstverein für die Rheinlande und Westfalen, Düsseldorf (2022), im Hordaland Kunstsenter, Bergen (2021), in der The Douglas Hyde Gallery, Dublin (2021), und in der Blindspot Gallery, Hongkong (2020). Tiffany Sia hat auch an vielen Festivals teilgenommen, etwa am New York Film Festival, am Toronto International Film Festival, am MoMA Documentary Fortnight, am Flaherty Film Seminar, und am Open City Documentary Film Festival. Zu ihren Filmen und Videos zählen: What Rules The Invisible, 2022; Scroll Figure #1-#4, 2022; Do Not Circulate, 2021, A Wet Finger in the Air, 2021, A Road Movie is Impossible in Hong Kong, 2021, SEA – SHIPPING – SUN, 2021; Never Rest/Unrest, 2020.

Scroll Figure #3 / Scroll Figure #4, 2022
Video, Farbe, ohne Ton
03:51 Min. / 03:01 Min.
Courtesy die Künstlerin und FELIX GAUDLITZ, Wien
Text Cynthia Krell
Übersetzung Amy Patton

¹ Lissoni, Andrea: „Breathing Cameras: Tiffany Sia, Tiffany Sia in conversation with Andrea Lissoni“, in: Mousse Magazine, 21. April 2021, S. 144.

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