ajh.pm

16.23 Mîrkan Deniz
95th Anniversary of the Treaty of Lausanne at the Château d’Ouchy

1/9
2/9
3/9Still
4/9
5/9Still
6/9
7/9Still
8/9
9/9Still
16.23 Mîrkan Deniz
95th Anniversary of the Treaty of Lausanne at the Château d’Ouchy
15.9.–14.11.23
Mîrkan Deniz tastet sich mit verbundenen Augen durch ein Hotelzimmer, dessen historische Bedeutung nicht näher erläutert wird. They bewegt sich vorsichtig mit ausgestreckten Armen, um nicht an die im Raum verteilten Möbel zu stoßen oder zu stolpern. In der knapp zehnminütigen Performance scheint die Person das Interieur zu erkunden, um ein dreidimensionales Bild vor them geistigen Auge entstehen zu lassen. Mehr
Fast jedem Einrichtungsgegenstand schenkt Mîrkan Deniz them Aufmerksamkeit, als würde they einen imaginären Dialog mit diesem führen. In einer letzten Einstellung verweilt die Kamera auf dem Buntglasfenster, das ein historisches Ereignis darstellt. Während der gesamten Performance wird they bei dieser Raumerkundung gefilmt, eine Einstellung ohne Unterbrechung. Dabei wird kein einziges Wort gesprochen, vielmehr tritt der Originalton intensiv in den Vordergrund. Das Abtasten und Streichen über verschiedene Oberflächen und Texturen wird somit als haptische Handlung für die Betrachter:innen hörbar gemacht: die Oberfläche der frisch bezogenen Bettdecke, die Ornamente der Holzvertäfelung an der Wand oder der gewebte Stoff des Sofas.

Als Betrachter:in ist man zunächst etwas ratlos und es entstehen Fragen wie etwa: Warum hat sich they die Augen verbunden? Woran erinnert Mîrkan Deniz sich, in den stillen Momenten? Welche besondere Bedeutung hat dieses Hotelzimmer und wo befindet es sich? Welche Bezüge werden bewusst nicht hergestellt? Warum wird während der Performance kein Wort gesprochen? Warum gibt es keine weiteren Hintergrundinformationen zum Friedensvertrag von Lausanne? Wo befindet sich dieses Schloss? Welche politische Rolle spielt die Schweiz?

Nach dem Ersten Weltkrieg und dem Zusammenbruch von vier Weltreichen war Europa von Gewalt und Instabilität geprägt. Der Friedensvertrag von Lausanne (1923) beendete den Ersten Weltkrieg und legte die Grenzen der Türkei fest. Er hatte auch schwerwiegende Folgen für die Minderheiten in der Türkei, die ihre Rechte nicht durchsetzen konnten. Der Vertrag sah unter anderem umfangreiche (Zwangs-)Umsiedlungen im Rahmen eines sogenannten „Bevölkerungsaustausches“ zwischen Griechenland und der Türkei vor. Die armenische und kurdische Bevölkerung konnte ihren Wunsch nach Autonomie und einem eigenen Staat im Vertrag nicht durchsetzen. Dies führte unter anderem dazu, dass Kurdistan geographisch und politisch auf vier Staaten (Türkei, Syrien, Irak und Iran) verteilt ist.

Mîrkan Deniz rückt den Ort des historischen Geschehens in den Mittelpunkt und geht der Frage nach, inwieweit Räume, Artefakte und Alltagsgegenstände als (stille) Zeugen dieser Ereignisse auch Geschichte(n) in sich tragen. Es handelt sich um eine künstlerische Forschung, die Architekturen und Räume durch Rekonstruktion und Intervention untersucht, um auf vergangene Ereignisse, deren Geschichtsschreibung und kollektive Erinnerung zu verweisen. Politische Verhandlungen wie der Friedensvertrag von Lausanne, deren Auswirkungen bis in die Gegenwart reichen, werden so wieder sichtbar gemacht und eröffnen eine Ebene der Verhandlung.

Mit dieser und anderen Werken begibt sich Mîrkan Deniz auf eine historische Spurensuche und verarbeitet diese anhand von Rekonstruktionen oder Zitaten zu konzeptuellen Arbeiten in den Medien Film, Installation und Skulptur. Dabei interessiert they das Spannungsfeld zwischen Material und immateriellen Effekten (Traumata, unausgesprochene Erfahrungen und Erinnerungen). Wie kann ein Objekt (eine Skulptur) diese Spannung aufrechterhalten und gleichzeitig die Beziehung zwischen Vergangenheit, Gewalt und Subjektivität untersuchen? So verwendet they beispielsweise Repliken von Gegenständen,die einen historischen Bezug zu einem konkreten Ereignis herstellen oder dieses repräsentieren. Für die Arbeit Masa, 2015/16, wurde eine Kopie des Tisches anfertigt, auf dem der Lausanner Friedensvertrag unterzeichnet wurde. Das Original hatte der Schweizer Bundespräsident Pascal Roger Couchepin im Jahr 2008 der Türkei geschenkt. Daraufhin organisierte Mîrkan Deniz zwei verschiedene künstlerische Aktionen: Die erste Aktion fand 2015 vor dem Palais de Rumine in Lausanne statt, wo der Vertrag unterzeichnet wurde. Ein Jahr später wurde eine weitere Aktion vor dem Bundeshaus in Bern wiederholt. Das „Geschenk“ wurde bis heute abgelehnt. Der Tisch ist derzeit in der Ausstellung frontières im Musée Historique Lausanne zu sehen.

Auch eine der jüngsten Installationen, On the fringes, 2022, bezieht sich auf das Ereignis von 1923: Ein orientalischer Teppich mit überlangen Fransen, in den die Jahreszahl 1923 eingewebt ist, wird zusammen mit anderen Alltagsgegenständen präsentiert. In den letzten Jahren haben Demonstranten in Palästina, Kurdistan und im Libanon mit ähnlichen Teppichen die Straßen bedeckt und so ihre eigenen Zufluchts- und Kampforte im öffentlichen Raum definiert. Die langen Fransen des Teppichs weisen darauf hin, dass die Proteste und Geschichte noch nicht zu Ende sind. Anhand dieser Werke und der hier gezeigten Videoarbeit wird deutlich, dass Mîrkan Deniz in them präzisen Auseinandersetzung mit einem historischen Ereignis die Vergangenheit mit der Gegenwart verbindet und so einen vielstimmigen Erinnerungs- und Verhandlungsraum eröffnet.

Mîrkan Deniz lebt und arbeitet (staatenlos, geb. 1990) in Zürich. Mîrkan Deniz erhielt in den vergangenen Jahren den Junge Akademie Preis der Akademie der Künste Berlin (2017), die Swiss Art Awards (2019) und den Kunstpreis der Stadt Zürich (2020). Zu ihren letzten Einzelausstellungen gehören: frontières im Musée Historique Lausanne (2023), öffentliche Kunstaktion und Performance performing in a room with history, Lausanne (2023), sowie in der Akademie der Künste Berlin (2017). Außerdem hat Mîrkan Deniz an den folgenden Gruppenausstellungen teilgenommen, unter anderem im Aargauer Kunsthaus (2020-2021), im Haus Konstruktiv, Zürich (2021) und im Helmhaus Zürich (2020).

Text Cynthia Krell

95th Anniversary of the Treaty of Lausanne at the Château d’Ouchy, 2018
HD Video, Farbe, Ton
10:00 Min.
Courtesy Mîrkan Deniz 

Schließen