ajh.pm

20.24 Katarina Zdjelar
AAA ( Mein Herz )

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20.24 Katarina Zdjelar
AAA ( Mein Herz )
15.11.–31.1.25
Katarina Zdjelar arbeitet vorwiegend mit Bewegtbild, Installation, Sound, Performance und Publikation. Sie erforscht die Inszenierung und Konstruktion geschlechtlicher, kultureller und politischer Identitäten über historische und geografische Räume hinweg. Ein zentrales Thema ist die Beschäftigung mit der menschlichen Stimme, dem Klang und der artikulierten Sprache, sowie deren Aufführungsmodi. Dabei untersucht sie die ästhetische, performative und politische Bedeutung der Stimme. Mehr
Die Künstlerin versteht Sprache sowohl als Mittel der persönlichen Identitätsbildung als auch als Instrument politischer Ermächtigung im Spannungsfeld von privaten und öffentlichen Räumen. Der Körper wird dabei zum performativen Ausdrucksmittel und Resonanzraum für Stimme, Gesang und Musik, wie beispielsweise in den Videoarbeiten Stimme, 2013, oder The Perfect Sound, 2009.

Zu ihren künstlerischen Prinzipien gehören die Methode der Probe und verschiedene Aufführungsformen von Stimme und Musik, die Elemente wie Improvisation, produktives Scheitern und Neuinterpretation vereinen. Beispiele dafür sind Werke wie Untitled ( A Song ), 2016, My Lifetime ( Malaika ), 2012, und Shoum, 2009. In neueren Arbeiten wie der Installation Not A Pillar Not A Pile, 2017/2020, setzt sie sich mit pazifistischen und (proto-)feministischen Praktiken auseinander und verweist dabei auf Persönlichkeiten wie Käthe Kollwitz und Dore Hoyer.

Die Videoarbeit AAA ( Mein Herz ), 2016, zeigt in einer Großaufnahme und einer einzigen, ununterbrochenen Einstellung das Gesicht einer jungen Frau, die frontal in die Kamera blickt. Sie performt vier unterschiedliche musikalische Darbietungen gleichzeitig. Dabei entstehen keine medley-artigen Übergänge; vielmehr wechselt sie fragmentarisch und abrupt zwischen den Stücken. Jede Passage behält ihren eigenen Stil, ihr Tempo, ihren Rhythmus und ihre Tonalität bei. Auch die verwendeten Sprachen (Deutsch, Englisch, Polnisch) sowie die Mimik der Performerin ändern sich dabei unvorhersehbar und ruckartig. Die Darstellerin versucht das Unmögliche: Ihr Gesang thematisiert sowohl die Überwindung der Brüche zwischen den Fragmenten als auch die präzise Interpretation der stilistisch und sprachlich unterschiedlichen Stücke. Als Zuhörer:in ist man herausgefordert, die einzelnen Fragmente wie ein Puzzle zusammenzusetzen oder sie einem bestimmten Lied zuzuordnen. Doch der Versuch scheitert stets aufs Neue, da die Künstlerin aus Stille, Musik, Geräusch und Sprache eine bizarre, widersprüchliche Klanglandschaft erschafft. Katarina Zdjelar formuliert ihre Intention wie folgt: „Ähnlich wie das Wechseln der Radiosender auf der Suche nach dem richtigen Lied, bestand der lohnendste und herausforderndste Aspekt der Zusammenführung dieser Kompositionen in einer einzigen Aufführung darin, Unterbrechungen zu komponieren und aufzuführen, die gleichzeitig die verbindende Kraft darstellen.”¹

In Zdjelars Arbeit sind es die Nuancen und Feinheiten ihrer Auseinandersetzung mit der menschlichen Stimme, die ihre Werke komplex und vielschichtig machen. So fassen die Kurator:innen der Gruppenausstellung Acts of Voicing, Württembergischer Kunstverein, die Eigenheiten der Stimme mit den folgenden Worten zusammen: „Die Stimme ist schwer zu fassen. Anders als Auge oder Ohr ist sie nicht lokalisierbar, sondern ereignet sich in dem flüchtigen Zusammenspiel mehrerer Organe. Sie befindet sich immer zugleich innerhalb und außerhalb des Körpers, ist ebenso immaterial wie von beträchtlichem sozialem und politischem Gewicht. Sie bringt gleichermaßen Schrei und Rede, Sinn und Unsinn, Rauschen und Gesang hervor. Dabei ist sie nie nur Werkzeug der Artikulation, sondern immer auch mit Handlung, mit Performativität verschänkt.”²

In der hier gezeigten Videoarbeit sind es vor allem die Dissonanzen zwischen Bild- und Tonebene sowie der Umgang mit Brüchen und Pausen, die unsere gewohnten Wahrnehmungsmuster herausfordern. In AAA ( Mein Herz ) stehen die Körperlichkeit der Stimme und die Mimik der Performerin im Mittelpunkt. Das Gesicht der Darstellerin wird, wie Zdjelar selbst sagt, zum visuellen „Schlachtfeld“, auf dem die widersprüchlichen Emotionen der Musikstücke für wenige (Milli-)Sekunden sichtbar werden, um sich dann blitzschnell zu verflüchtigen, bevor wir sie überhaupt entschlüsseln können. Auf der klanglichen Ebene arbeitet sie mit dem Prinzip der Collage, indem sie vier Musikstücke fragmentiert und zu einem neuen Song zusammensetzt. Das Ergebnis ist eine poetische Kakophonie, die sich unseren westlich geprägten Hörgewohnheiten entzieht und sich durch gezielte Akzentuierungen zu einer neuen Erzählung verdichtet. Die verwendeten Musikstücke und ihre inhaltlichen Botschaften treten zunehmend in den Hintergrund. Vielmehr entstehen durch die Unterbrechungen und Pausen (auch semantische) Leerstellen, die wir mit unseren subjektiven Assoziationen füllen können.

In ihren Videoarbeiten zeigt Katarina Zdjelar eindrucksvoll die Faszination der menschlichen Stimme und die Vielfalt der Musik als kulturelles Medium. Durch überraschende Settings und Situationen, in denen die Akteur:innen und Performer:innen agieren, beobachtet sie die Ausdruckskraft der Stimme mit reduzierten filmischen Mitteln, ähnlich einer wissenschaftlichen Versuchsanordnung. Dabei choreografiert sie ihre Szenen sorgfältig und bewegt sich zwischen Prozess und Ergebnis. Mit der Dekonstruktion der Musikstücke und der Fokussierung auf die Performativität der Stimme schafft sie eine poetische Projektionsfläche, die vertraute Wahrnehmungsmuster durchbricht und das Universelle kultureller Produktivität hervorhebt. Ihre künstlerische Praxis erzeugt temporäre und semantische Ungleichzeitigkeiten und eröffnet Räume zwischen Erwartung und Überraschung, Choreografie und Improvisation. So entstehen zeitliche Leerstellen und thematische Tiefen, die sich erst auf den zweiten Blick erschließen.

Katarina Zdjelar ist in Belgrad aufgewachsen und lebt heute in Rotterdam und Belgrad. Zdjelar hat einen MA in Bildender Kunst vom Piet Zwart Institute in Rotterdam und einen Abschluss der Universität der Künste in Belgrad. Sie absolvierte einen zweijährigen Aufenthalt an der Rijksakademie van beeldende kunsten in Amsterdam. Im Jahr 2019 vertrat Katarina Zdjelar gemeinsam mit Zoran Todorovic Serbien auf der 53. Biennale von Venedig. Zu den jüngsten Einzelausstellungen zählen Ausstellungen in der Galerie SpazioA in Pistoia (2023), im The Cultural Centre of Belgrade, Belgrad (2023), im MSU in Zagreb (2022), im MMC KIBLA/KiBela in Maribor (2021) und im Oregon Contemporary in Portland (2021), im Casino Luxembourg (2018), im Salzburger Kunstverein (2018), in der Akademie der Künste der Welt in Köln (2016) sowie im Kunstverein Bielefeld (2014). Sie nahm an zahlreichen Gruppenausstellungen teil darunter beim Wildwuchs Festival in der Kaserne Basel (2023), im Garage Rotterdam (2022), im Museum of African Art in Belgrad (2022), in der Kunsthal Extra City in Antwerpen (2021), im Kunstraum Niederoesterreich in Wien (2021), im Bonnefantenmuseum Maastricht (2020), auf der 11. Berlin Biennale (2020), im HMKV in Dortmund (2020), im Museion in Bozen (2019), sowie im Muzeum Sztuki in Lodz (2019). Zuletzt erhielt sie den MMSU Award des 24. Zagreber Salons (2019), den Dolf Henkes Preis (2017) und war für den niederländischen Prix de Rome Award nominiert (2017, 2010).

www.katarinazdjelar.net

Text Cynthia Krell

AAA ( Mein Herz ),
2016
Video, Farbe, Ton
4:30 Min.
Courtesy die Künstlerin und SpazioA, Pistoia.

¹ Aus der E-Mail-Korrespondenz mit der Künstlerin vom 2. November 2024.
² Ausst. Kat. Stuttgart. Acts of Voicing, hrsg. von Christ, Hans D., Dressler, Iris, Peters, Christine, Württembergischer Kunstverein Stuttgart, Leipzig 2014, S. 11.

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19.24 Pauline Boudry & Renate Lorenz
(No) Time

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19.24 Pauline Boudry & Renate Lorenz
(No) Time
15.8.–13.11.24
Eröffnung
30.8.24, 20–22 Uhr

Video In Dialogue mit Franziska Derksen
3.9.24, 20.30 Uhr
5.11.24, 20 Uhr

In der Filminstallation (No) Time, 2020 treten vier unterschiedliche Tänzer:innen jeweils einzeln oder in verschiedenen Konstellationen auf einer schwarzen Bühne auf. Die Performer:innen präsentieren sich in einer Weise, die eine eindeutige Zuordnung zu einem Geschlecht erschwert. Zudem sind alle Tänzer:innen schwarz gekleidet. Trotz dieser Uniformität weisen die Tänzer:innen individuelle, körperliche Merkmale auf, die sie voneinander unterscheiden. Die Performance und der Bewegungsfluss wirken auf den ersten Blick stark verfremdet. Verstärkt wird diese Irritation durch die teilweise verzerrte Musik oder die gelben, sich bewegenden Jalousien vor der Projektion.
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Die Tänzer:innen nutzen zahlreiche Bewegungsmuster, darunter extreme Langsamkeit, Rhythmuswechsel, Stille und Pausen. Im Duett werden manche Bewegungen scheinbar zeitlich gegenläufig ausgeführt. In einigen Fällen wurden einzelne Tanzsequenzen technisch verändert, rückwärts, verlangsamt oder beschleunigt abgespielt. Durch den weitgehenden Verzicht auf Musik rücken die sich bewegenden Körper in den Vordergrund und die unterschiedlichen Tanzstile wie etwa Hip-Hop, Dancehall, (Post-)Modern Dance und Drag-Performance werden umso deutlicher. Diese werden durch plötzliche Ähnlichkeiten, eindringliche Bewegungen und körperliche Erinnerungen überbrückt, wodurch Berührungspunkte entstehen oder verschoben werden.

Die Künstler:innen verwenden bestimmte Mittel zur theatralischen Inszenierung: Besonders auffällig sind die an den Kleidungsstücken befestigten Ketten, die als wiederkehrendes Element im Werk von Pauline Boudry und Renate Lorenz auftauchen. So sind in (No) Time an einem Ärmel viele silberne Ketten befestigt, die Assoziationen an Schmuck oder Waffen wecken. Oder eine Kappe ist mit einem Kettenvorhang verziert, so dass das Gesicht der Tanzenden nicht zu erkennen ist. Während des Tanzes werden die Kettenprothesen aktiv eingesetzt, indem sie einerseits den Bewegungsradius der Gliedmaßen erweitern, und andererseits als visuell-akustisches Element die Aufmerksamkeit des Publikums auf sich ziehen. Des Weiteren werden bewusst Referenzen an die Hip-Hop-Kultur sowie Drag-Performances hergestellt. Innerhalb des Kontextes des Tanzes bleibt der Einsatz von Ketten ambivalent, da er in den Solo- und Duett-Darbietungen Assoziationen zu Bewegungen von Angriff und Verteidigung evoziert. Es werden weitere Requisiten wie Plateau-Schuhe, Spitzenschuhe oder eine Perücke verwendet, welche aufgrund ihrer Symbolhaftigkeit zu agierenden Akteur:innen werden.

Die schwarze Bühne ist ein wesentlicher Bestandteil der Inszenierung und erfüllt als Black Box sowohl eine wörtliche als auch eine metaphorische Funktion. Der reduzierte Einsatz einer automatischen Glasschiebetür bewirkt eine optische Trennung und Fokussierung des Bühnenraums, wodurch der Auftritt und Abgang der Darsteller:innen als wesentliches theatrales Element betont wird. Zusätzlich wirkt der glänzende Bühnenboden als Spiegel und Verdoppelung der Performance und verleiht dem Ganzen einen surreal-utopischen Moment. Die gelben Jalousien vor der Projektion bewegen sich scheinbar autonom. Dadurch wird der Blick auf die Tanzperformance unterbrochen und es entstehen visuelle Leerstellen und narrative Zwischenräume.

Im historischen Rückblick lässt sich feststellen, dass der Tanz (bzw. die damit verbundene Musik) wiederholt als Medium diente, um Empowermentprozesse von marginalisierten Gruppen zu fördern und sich gegen bestehende Gesellschafts- und Machtordnungen mit künstlerischen Mitteln teilweise subversiv zur Wehr zu setzen. Beispiele hierfür sind Capoeira, Hip-Hop, Dancehall oder Drag-Performance. Diesen kulturgeschichtlichen Aspekt verbinden die Künstlerinnen mit dem aktuellen Phänomen des so genannten Backlash, einer starken negativen Reaktion auf eine Idee, eine Handlung oder ein Objekt. Als Backlash bezeichnet man die ablehnende Haltung der normativen so genannten Mehrheitsgesellschaft gegenüber progressiven Randgruppen. Diese streben einen gesellschaftlichen Wandel an, der mit der Infragestellung struktureller Privilegien und Machtverhältnisse einhergeht. Die zuletzt entstandenen Videoarbeiten Moving Backwards, 2019, und Les Gayrillères, 2022, bilden mit (No) Time eine Trilogie. Die beschriebenen Backlashes dienen als Ausgangspunkt für eine künstlerische Erforschung in Form von Tanz und queeren Handlungs- und Möglichkeitsräumen. Letztere werden in Kollaboration mit einem Team aus Choreograph:innen und Performer:innen entwickelt.

In der Trilogie beschäftigen sich die Künstlerinnen mit dem Phänomen der Schwellenräume (engl. liminal spaces). Diese können als Zwischenräume zwischen Zeiten, zwischen sozialen (Un-)Ordnungen und zwischen noch nicht erreichten Zuständen verstanden werden. Der Begriff der Liminalität wurde Ende der 1960er Jahre von dem Kulturanthropologen Victor Turner geprägt und wird seither in verschiedenen Forschungsfeldern – auch in der Kunstwissenschaft – diskutiert. Turner beschreibt damit einen Schwellenzustand, in dem sich Individuen oder Gruppen befinden, nachdem sie sich rituell von der vorherrschenden sozialen Ordnung gelöst haben (z. B. Kindheit-Pubertät-Erwachsenenalter).

Gegenwärtig lässt sich eine besondere Relevanz des Begriffs feststellen. Aktuelle Analysen sich wandelnder politischer und soziokultureller Konstellationen lassen sich teilweise als direkte Beschreibungen des Phänomens der Liminalität interpretieren. Gesellschaftliche Umbrüche und Veränderungen des individuellen Status gehen mit Irritationen und Herausforderungen einher, die zur Gefährdung oder Bedrohung individueller Lebenslagen und sozialer Ordnungen führen können. In diesem Zusammenhang eröffnen sich labile Zwischenräume außerhalb gewohnter Strukturen, von denen ganze soziale Gruppen in unterschiedlichen Kulturen betroffen sind.

In den Arbeiten von Boudry & Lorenz wird der gesellschaftliche Zustand aus der Perspektive von Minderheiten thematisiert, das Potenzial von transformativen Räumen und Körpern im Schwebezustand erforscht und theatralisch inszeniert. Das Ergebnis sind subversive künstlerische Akte, die versuchen einen Schwellenzustand zwischen der gewohnten soziokulturellen Struktur und einer neuen, zunächst noch unbekannten Umgebung und Persona zu schaffen oder eine mögliche Zukunft zu antizipieren. Denn der liminale Zustand ist kein statischer, sondern ein fluktuierender Schwebezustand. Es gilt, den fließenden Prozess zuzulassen, auszuhalten oder Kunst als Erfahrung des Liminalen zu verstehen.

Seit 2007 arbeiten Pauline Boudry und Renate Lorenz gemeinsam in Berlin. Ihre Installationen zeichnen sich dadurch aus, dass sie die Spannung zwischen Sichtbarkeit und Opazität inszenieren. Die Filme der Künstlerinnen fangen Performances vor der Kamera ein, oft inspiriert von einem Lied, einem Bild, einem Film oder einer Filmmusik aus der nahen Vergangenheit. Die Künstlerinnen stellen normative historische Erzählungen und Zuschauer:innenkonventionen in Frage, indem sie Figuren und Handlungen über die Zeit hinweg inszenieren, überlagern und neu erfinden. Die Darsteller:innen sind Choreograph:innen, Künstler:innen sowie Musiker:innen, mit denen sie in den Projekten über die Bedingungen der Performance, die oftmals gewalttätige Geschichte der (Un-)Sichtbarkeit, die Pathologisierung von Körpern sowie über Gesellschaft, Glamour und Widerstand diskutieren. Die bewusste Missachtung konventioneller und traditioneller Repräsentationsformen dient dabei der Untersuchung ebendieser.

Einzelausstellungen und Projekte von Pauline Boudry und Renate Lorenz waren unter anderem zu sehen im Kunstnernes Hus, Oslo (2023), in der Tensta konsthall Stockholm (2023), im Palacio de Cristal / Museo Nacional Centro de Arte Reina Sofía, Madrid (2022), im CA2M Centro de Arte Dos de Mayo, Madrid (2022), im Neue Berliner Kunstverein (n.b.k.) (2022), im Kunstraum Innsbruck (2021), im FRAC Bretagne, Rennes (2021), im Schweizer Pavillon der 58. Biennale di Venezia (2019), in der Julia Stoschek Collection, Berlin (2019), im Centre culturel suisse, Paris (2018), im
Contemporary Arts Museum Houston (CAMH) (2017), in der Kunsthalle Zürich (2015) und in der Kunsthalle Wien (2015). Ihre Arbeiten wurden in zahlreichen Gruppenausstellungen gezeigt, darunter auf der 35. Bienal de São Paulo (2023), im Centre Pompidou, Paris (2023), im Kunstmuseum Magdeburg (2023), im Kunstverein Braunschweig (2023), in der Whitechapel Gallery, London (2022), in der National Gallery of Victoria, Melbourne (2022), im Van Abbemuseum, Eindhoven (2022), in den Sofia Art Projects (2021), im Mudam Luxembourg – Musée d’Art Moderne Grand-Duc Jean (2021) und im BAK, basis voor actuele kunst, Utrecht (2021).

www.boudry-lorenz.de

Text Cynthia Krell
Übersetzung Amy Patton

(No) Time, 2020
Installation mit HD, 3 Jalousien
Video, Farbe, Ton
20 Min.
Choreographie/Performance Julie Cunningham, Werner Hirsch, Joy Alpuerto Ritter, Aaliyah Thanisha
Courtesy die Künstlerinnen und Ellen de Bruijne Projects, Amsterdam.

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18.24 Mohamad Abdouni
ANYA KNEEZ: A Queen in Beirut

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18.24 Mohamad Abdouni
ANYA KNEEZ: A Queen in Beirut
15.3.–14.6.24
“It’s not about drag,
It’s about what excites me,

what I find fun is the idea of dressing up,
but it doesn’t have to be drag,
it could be a boy look.”

Anya Kneez

ANYA KNEEZ: A Queen in Beirut, 2017, ist ein Dokumentarfilm über das Leben eines jungen Mannes, der die Kunstform des Drag aus Brooklyn in den Clubs von Beirut wieder aufleben ließ. Ihr Alterego als Drag Queen Anya Kneez, kehrt nach 23 Jahren in den USA nach Beirut im Libanon zurück, um ihre Eltern zu pflegen. Dort kämpft sie fünf Jahre später immer noch mit den Werten einer Gesellschaft, die ihren Lebensstil nicht akzeptiert und sie ein Doppelleben führen lässt.
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Entstanden ist ein intimes und sensibles Videoporträt, das sowohl den Alltag als auch die Vorbereitungen, die mit der Verwandlung in eine Drag Queen verbunden sind, in kontrastreichen Bildern einfängt. Die Kamera begleitet Anya beim Zeichnen von Entwürfen, beim Einkauf von Schmuck und Stoffen, beim Schminken, beim Anprobieren, beim Posieren und bei der Performance. Umso erstaunlicher ist es, dass die extravaganten Drag Queen-Outfits und Accessoires allesamt in einem winzigen Schlaf- und Nähzimmer entstehen, wo sie von der studierten Modedesignerin mit viel Liebe zum Detail gezeichnet, entworfen und genäht werden. 

Wie beiläufig erzählt uns die Hauptfigur in einem Monolog aus ihrem Leben, aber nicht chronologisch und linear, sondern vielmehr in einer vertrauten Gesprächssituation wie unter Freund:innen. Es wird schnell klar, dass die Beziehung zwischen Anya und dem Filmemacher eine intime ist, eine Freundschaft, die es erlaubt, dass solch offener Trost mit Leichtigkeit durchsickert. Anya erzählt von ihrer Leidenschaft für Mode, wie sie in New York Modedesign studiert und die Performancekunst der Drag Queens entdeckt. Damit verbindet sie nicht nur den Akt der Selbstbefreiung und das modische Spiel mit Identitäten, sondern auch einen emotionalen Ausnahmezustand: „Ich kann nicht wirklich erklären, welche Emotionen und Gefühle ich empfinde, den Adrenalinstoß, die Liebe zu mir selbst und das wahnsinnige Selbstvertrauen, wenn ich ein Kleid oder einen Overall anziehe, mein Gesicht schminke, ein paar Stiefel anziehe und losgehe, als würde mir die Welt gehören.“ Diese flirrenden Emotionen, trotzenden Selbstbewusstseins, werden in den clipartigen Aufnahmen von Anya Kneez spürbar, in denen sie im flackernden Licht posiert und verführerisch tanzt. 

Anyas Faszination für Drag ist eng mit ihrer Leidenschaft für Mode verbunden, die sie wie folgt beschreibt: „Ich liebe Kleidung. Das ist einer der Gründe, warum ich mich für diesen Beruf und diese Branche entschieden habe. Es hat etwas mit der Idee der Mode zu tun, mit der Vorstellung, dass man sich durch ein Kleidungsstück verwandeln und der Welt, in der man lebt, entfliehen kann, und sei es auch nur für eine Minute.” Diese kulturelle Praxis des spielerischen Umgangs mit Geschlechtervielfalt und Identitäten in der Mode bildet eine Analogie zur heutigen Inszenierung des Ichs in den sozialen Medien (Selfies mit/ohne Filterfunktionen) und sogar zum kunsthistorischen Genre des Selbstporträts. Das Selbstbildnis dient dabei als Projektionsfläche für Fiktionen und ist daher besonders geeignet, das künstlerische Selbstverständnis zu artikulieren und an den oder die Künstler:in rückzubinden. Im Zuge jeder Selbstdarstellung ist das dargestellte Selbst immer auch Chiffre für kollektive Sehnsüchte, Erwartungen, Wünsche oder Ängste, wie die inszenierten Fotografien von Cindy Sherman eindrücklich zeigen. 

All diesen Formen der Selbstinszenierung ist einerseits das Spiel mit Geschlechter-identitäten gemeinsam, andererseits wird das (körperliche) Begehren des Anderen verhandelt. Der Körper wird zum Möglichkeitsraum, zum Narrativ oder zur Bühne für Inszenierungen durch Gestik, Mimik, Make-up, Kleidung und Accessoires. Gerade das Uneindeutige und Fließende kann phantasievoll erprobt werden. Es ist ein Wirken an einer Zwischenleiblichkeit, die zwar immer schon da ist, aber auch immer wieder neu als erfahrbarer (Handlungs-)Raum geschaffen werden muss. Denn gerade in der queeren Kultur ist der Körper immer auch Repräsentation, politischer Aktivismus und gelebter Widerstand gegen die Normierung von Körper und Subjektivität zugleich. 

Den positiven Erinnerungen, Emotionen und Freiheiten der prägenden Jahre in den USA stehen die homophoben Erzählungen der Eltern, die Vorstellungen von Männlichkeit und die normativen Werte der (arabischen) Gesellschaft gegenüber. Daraus ergibt sich der ständige Widerspruch, einen Teil der eigenen Persönlichkeit komplett verleugnen und verbergen zu müssen – ein Doppelleben zu führen. Das Video wird aus einer rein subjektiven Perspektive erzählt und fokussiert somit eher den biografischen Kontext, auch wenn die Eltern als Vertreter:innen der libanesischen Gesellschaft fungieren. Zum Teil nimmt Anya in ihren eigenen Aussagen Bezug auf die soziale und gesellschaftspolitische Realität und die Situation der queeren Community im Libanon. Es handelt sich somit um ein Dokument im Sinne des Oral-History-Ansatzes, das Zeitzeug:innen selbst und frei zu Wort kommen lässt. Anya berichtet im Originalton über Ereignisse, Gefühle und Aspekte, die ihr wichtig erscheinen – ohne Einordnung oder Kommentierung durch Mohamad Abdouni. 

Der Dokumentarfilm macht auf unmittelbare Weise deutlich: Das Bedürfnis eines jeden Menschen, seinen oder ihren Platz in der Gesellschaft zu finden, sich akzeptiert zu fühlen, sich so entfalten zu können, dass Innen und Außen eine Einheit bilden – auch jenseits einer Heteronorm – ist ein sehr universelles menschliches Anliegen. Umso mehr erscheint die Kunstfigur Anya Kneez wie eine Utopie, ein Wesen aus einer genderfluiden Zukunft, in der alle Menschen so sein können, wie sie sich fühlen und gesehen werden wollen – um das Leben in seiner Vielfalt zu feiern.

Mohamad Abdouni (*1989, Libanon) ist ein Künstler, Fotograf, Filmemacher und Kurator. Er lebt und arbeitet in Beirut und Istanbul. Außerdem ist er Chefredakteur und Creative Director von COLD CUTS, einem Fotomagazin, das sich mit queeren Kulturen in der SWANA-Region (Nordafrika und Südwestasien) beschäftigt. Seine Arbeiten wurden international in Museen und Galerien ausgestellt, unter anderem im Brooklyn Museum New York (2017), in der FOAM Gallery Amsterdam (2019), im Institut des Cultures de l’Islam Paris (2019), in der Patel Brown Gallery Toronto (2021), im Institut du Monde Arabe Paris (2022) sowie der Lyon Biennale (2022). Er ist außerdem Preisträger der diesjährigen Lafayette Anticipations, die während seiner Einzelausstellung bei Paris + by Art Basel mit der Galerie Marfa’ verliehen wurden. Mohamad Abdounis Filme wurden auf zahlreichen Festivals gezeigt, wie etwa dem Eyes Wide Open Cinema (UK), dem Leeds Queer Film Festival (UK), dem International queer & Migrant Film Festival Amsterdam (NL), dem Woodbury LGBTQ Film Festival New Jersey (USA), dem Pink Apple schwullesbisches Filmfestival Zürich/Frauenfeld (CH). Auf kommerzieller Ebene hat er Regie geführt sowie Mode- und Musikvideos für bekannte Labels, Marken und Magazine gedreht, wie etwa Gucci, Vogue US, Vogue Italien, Burberry, Puma, The New York Times, Slate, Fendi, Farfetch, GQ, King Kong, Dazed, Another, Nowness, Vice UK und L’officiel. Im Rahmen umfangreicher Rechercheprojekte konzentriert er sich auf die unerzählten Geschichten Beiruts und die Aufdeckung der reichen, aber ausgelöschten queeren Geschichte der arabischsprachigen Region durch mehrere Dokumentarfilme und Fotostorys, die in verschiedenen Publikationen veröffentlicht wurden, darunter A24, Telerama, Foam Magazine, Tetu, New Queer Photography, Kaleidoscope, i-D, Photoworks und The Guardian. Zuletzt widmete er sich dem wohl ersten Archiv für Trans*-Geschichten in einem arabischen Land, dem Projekt Treat Me Like Your Mother: Trans* Histories From Beirut’s Forgotten Past. Diese Sammlung befindet sich heute in der Arab Image Foundation in Beirut.

www.mohamadabdouni.com

Text Cynthia Krell

ANYA KNEEZ: A Queen in Beirut, 2017
Video, Farbe, Ton
10:53 Min.
Courtesy der Künstler und Marfa’, Beirut.

Fotos Philipp Ottendörfer

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17.23 Pipilotti Rist
Ever Is Over All

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17.23 Pipilotti Rist
Ever Is Over All
1.12.–3.3.24
Veranstaltungsreihe im Rahmen der Ausstellung
Video in Dialogue
30.1. und 20.2.24
19–20.30 Uhr

Das Werk der Schweizerin Pipilotti Rist ist tief in der Populärkultur, der Medienrealität und der feministischen Videokunst verwurzelt. Ihre frühen Arbeiten aus den 1980er Jahren im Stil von Musikvideos zeichnen sich durch poppige Bilder aus, die collagenartig zu kurzen Clips montiert sind. Wiederkehrende Motive sind ungewöhnliche Perspektiven und das kontrastreiche Zusammenspiel von Menschen, Tieren, Natur, Apparaten und Maschinen, atmosphärisch unterlegt mit Text- und Musikfragmenten, aber auch mit ästhetisch-visuellen Störelementen.
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In vielen Arbeiten tauchen explizite Darstellungen weiblicher Körper(-teile) und Sexualität auf, die jedoch ambivalent und humorvoll gelesen werden können (Pickelporno, 1992; Homo Sapiens Sapiens, 2005). Darüber hinaus setzt sich Pipilotti Rist mit ihrer eigenen Rolle als Künstlerin und dem damit verbundenen möglichen Scheitern auseinander ((Entlastungen) Pipilottis Fehler, 1988; Pepperminta, 2009).

Ende der 1980er Jahre entstanden die ersten Videoarbeiten, in denen die Künstlerin selbst vor der Kamera agierte. Dabei verwendet Rist unscharfe Störbilder, Hintergrundgeräusche und selbstreferentielle Texte, die eine Hommage an die Anfänge der experimentellen Film- und Videokunst darstellen, aber auch die manipulativen Möglichkeiten der damaligen Bild- und Videoproduktion aufzeigen. International bekannt wurde Pipilotti Rist mit der hier gezeigten Videoinstallation Ever Is Over All, 1997, die sie für die 47. Venedig Biennale produzierte. In ihren späteren Arbeiten kombiniert sie diese Bildsprache mit vergrößerten Natur- und Alltagsaufnahmen, fragmentierten Körperbildern und komplexen Musikkompositionen. Mit der öffentlichen Projektion des Videos Open My Glade, 2000, auf dem Times Square in New York (2000/2017) erlangte sie eine breitere Rezeption und Aufmerksamkeit. Nicht minder spektakulär war die eigens als Deckenprojektion konzipierte Videoarbeit Homo Sapiens Sapiens, 2005, die im Rahmen der 51. Biennale von Venedig in einer barocken Kirche gezeigt wurde und wegen Obszönität vorzeitig geschlossen werden musste. 2009 wird Pipilotti Rists erster Spielfilm Pepperminta bei den Internationalen Filmfestspielen von Venedig gezeigt. Darüber hinaus inszeniert die Künstlerin für ihre Ausstellungen ortsspezifische Settings, die dem Publikum ein immersives Eintauchen und Erleben ermöglichen.

Die Videoinstallation Ever Is Over All besteht aus zwei sich überlagernden Projektionen: Auf der linken Seite ist eine Einzelaufnahme einer jungen Frau zu sehen, die in einem blauen Kleid, roten Schuhen und rotem Lippenstift sehr mädchenhaft wirkt. Fröhlich schreitet sie mit einer überdimensionalen Blumendolde über einen von Häusern und parkenden Autos gesäumten Bürgersteig. Im Kontrast dazu stehen Naturaufnahmen, die eine Blumenwiese mit exotischen Pflanzen zeigen. Beide Videos werden verlangsamt abgespielt, fast wie in Zeitlupe. Der magisch-suggestive Bilderfluss der beiden Szenen wird abrupt unterbrochen, als die Frau mit der langstieligen Blumendolde in der Hand gewaltsam eine Reihe von Autoscheiben zertrümmert. Auch die meditative Musik wird plötzlich durch das überlaute Geräusch zerbrechender Scheiben unterbrochen. Mit diesem Wendepunkt wird ein irritierender Schreckmoment inszeniert und mehrfach wiederholt. Eine vorbeilaufende Polizistin und eine Passantin in rotem Mantel drücken nonverbal ihre positive Zustimmung zu dieser Aktion im öffentlichen Stadtraum aus. Wie beiläufig und harmlos endet das Video, wie es begonnen hat.

Mit großer Leichtigkeit gelingt es der Künstlerin, widersprüchliche Momente zu erzeugen und damit auch das eigene Rollenverständnis und die eigenen Erwartungen zu entlarven. Aus der Distanz werden wir zum stillen Beobachtenden einer ungewöhnlichen Aktion und somit auch zur Komplizin oder zum Komplizen gemacht. Dabei konterkariert die Künstlerin geschlechtsspezifische Eigenschaften wie Aggressivität und Waffengewalt, indem sie die mädchenhaft wirkende Protagonistin damit ausstattet und sie diese öffentlich ausleben lässt. Einen weiteren Kontrast bildet die eingesetzte Waffe, eine phallusartige Blumendolde aus Metall, mit der Autoscheiben (das Patriarchat) eingeschlagen werden können – eine von vielen Interpretationen. Rists Arbeit verwandelt destruktive Energie in Hoffnung und ist ein feministisches Plädoyer für mehr Selbstbestimmung und Freiheit, das durch seine spielerische und subversive Ästhetik überzeugt.

Die Arbeit Ever Is Over All lässt sich nicht nur aus der Gegenwart und aktuellen Diskursen heraus interpretieren, sondern auch in eine kritische Praxis der feministischen Medienkunst einbetten. Insbesondere Künstlerinnen der Feministischen Avantgarde¹ beschäftigen sich mit der Frage, wie das traditionelle Frauenbild weibliche Stereotype und Identitäten in unserer Gesellschaft bestimmt. Dabei thematisieren sie den Gegensatz zwischen häuslicher und künstlerischer Arbeit, zwischen Produktion und Reproduktion, reflektieren die Rolle der Frau in einer von männlichen Stereotypen geprägten Berufs- und Medienwelt. Ein weiterer Schwerpunkt ist die Auseinandersetzung mit weiblicher Sexualität, dem eigenen Körper, Schönheitsnormen und Gewalt gegen Frauen. All diese Fragen und Themen bestimmen auch heute noch die soziale Realität vieler Frauen und sind Gegenstand künstlerischer Praxis.

So hat das Werk von Pipilotti Rist auch im Jahr 2023 aufgrund der immer noch ungleichen Geschlechterverhältnisse nichts von seiner Aktualität verloren, sondern ermöglicht eine überzeitliche Interpretation aus der Gegenwart heraus. Es handelt sich um ein vielschichtiges Werk feministischer Videokunst, das traditionelle Blick- und Geschlechterverhältnisse aufbricht und Video als Medium der Selbstermächtigung begreift.

Pipilotti Rist geboren 1962 in Rheintal (CH), lebt und arbeitet in Zürich (CH). Sie hat an der Hochschule für Angewandte Kunst in Wien studiert und an der Schule für Gestaltung in Basel den professionellen Umgang mit Video erlernt. Seit 1984 Arbeit mit Performance und Pop-Musik, u. a. als Mitbegründerin der Frauenband Les Reines Prochaines (1988–1994). Seit 1988 künstlerischer Schwerpunkt Video/Film und Videoinstallationen. Zu ihrem Werkkomplex gehören seit den 2000er Jahren auch Environments, Fotomontagen sowie Kunst am Bau bzw. Kunst im öffentlichen Raum, darunter in Berlin, Buchs, St. Gallen, Genf und Zürich. Zu ihren letzten Einzelausstellungen (Auswahl) gehören unter anderem: im Museum of Fine Arts Houston (US, 2023); im M+, Kowloon, Hong Kong (HK, 2023); in der Bechtler Stiftung, Uster (CH, 2022); im National Museum of Qatar, Doha, (QA, 2022); im Museum Boijmans Van Beuningen het Depot Rotterdam, Rotterdam (NL, 2021); im National Museum of Contemporary Art, Kyoto (JP, 2021); Museum of Contemporary Art, Los Angeles (US, 2021); in der Vleeshal, Middelburg (NL, 2020). Außerdem hat sie mit ihren Werken an zahlreichen Biennalen, Gruppenausstellungen, Biennalen und Festivals teilgenommen, darunter: in der Pinakothek der Moderne, München (2023); in der Julia Stoschek Foundation, Düsseldorf (2023); in der Kunsthalle Mannheim (2023); in der Fundació Joan Miró, Barcelona (ES, 2023); im Kunstmuseum Basel (CH, 2022); im Museum of Contemporary Art Antwerp, Antwerpen (BE, 2022); im ARKEN Museum for Moderne Kunst, Skovvej (DK, 2022) und im Kunstmuseum Wolfsburg (2022).

Text Cynthia Krell
Übersetzung Amy Patton

Ever Is Over All, 1997
Zwei-Kanal-Video
Farbe, Ton
4:07 Min.
Maße variabel
Ton Anders Guggisberg, Pipilotti Rist
Courtesy die Künstlerin, Hauser & Wirth und Luhring Augustine. © Pipilotti Rist
Video Stills © Pipilotti Rist / 2023, VG Bild-Kunst

Fotos Philipp Ottendörfer

¹Zu den bekanntesten Vertreterinnen der Feminstischen Avantgarde, darunter auch Video- und Filmemacherinnen und Performerinnen, gehören unter anderem: Eleanor Antin (*1935), Teresa Burga (1935-2021), VALIE EXPORT (*1940), Lynn Hershman Leeson (*1941), Ana Mendieta (1948-1985), Gina Pane (1939-1990), Friederike Pezold (*1945), Ulrike Rosenbach (*1943), Martha Rosler (*1943), Carolee Schneemann (1939-2019), Cindy Shermann (*1954), Hannah Wilke (1940-1993), Martha Wilson (*1947), u.v.a.

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16.23 Mîrkan Deniz
95th Anniversary of the Treaty of Lausanne at the Château d’Ouchy

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16.23 Mîrkan Deniz
95th Anniversary of the Treaty of Lausanne at the Château d’Ouchy
15.9.–14.11.23
Mîrkan Deniz tastet sich mit verbundenen Augen durch ein Hotelzimmer, dessen historische Bedeutung nicht näher erläutert wird. They bewegt sich vorsichtig mit ausgestreckten Armen, um nicht an die im Raum verteilten Möbel zu stoßen oder zu stolpern. In der knapp zehnminütigen Performance scheint die Person das Interieur zu erkunden, um ein dreidimensionales Bild vor them geistigen Auge entstehen zu lassen. Mehr
Fast jedem Einrichtungsgegenstand schenkt Mîrkan Deniz them Aufmerksamkeit, als würde they einen imaginären Dialog mit diesem führen. In einer letzten Einstellung verweilt die Kamera auf dem Buntglasfenster, das ein historisches Ereignis darstellt. Während der gesamten Performance wird they bei dieser Raumerkundung gefilmt, eine Einstellung ohne Unterbrechung. Dabei wird kein einziges Wort gesprochen, vielmehr tritt der Originalton intensiv in den Vordergrund. Das Abtasten und Streichen über verschiedene Oberflächen und Texturen wird somit als haptische Handlung für die Betrachter:innen hörbar gemacht: die Oberfläche der frisch bezogenen Bettdecke, die Ornamente der Holzvertäfelung an der Wand oder der gewebte Stoff des Sofas.

Als Betrachter:in ist man zunächst etwas ratlos und es entstehen Fragen wie etwa: Warum hat sich they die Augen verbunden? Woran erinnert Mîrkan Deniz sich, in den stillen Momenten? Welche besondere Bedeutung hat dieses Hotelzimmer und wo befindet es sich? Welche Bezüge werden bewusst nicht hergestellt? Warum wird während der Performance kein Wort gesprochen? Warum gibt es keine weiteren Hintergrundinformationen zum Friedensvertrag von Lausanne? Wo befindet sich dieses Schloss? Welche politische Rolle spielt die Schweiz?

Nach dem Ersten Weltkrieg und dem Zusammenbruch von vier Weltreichen war Europa von Gewalt und Instabilität geprägt. Der Friedensvertrag von Lausanne (1923) beendete den Ersten Weltkrieg und legte die Grenzen der Türkei fest. Er hatte auch schwerwiegende Folgen für die Minderheiten in der Türkei, die ihre Rechte nicht durchsetzen konnten. Der Vertrag sah unter anderem umfangreiche (Zwangs-)Umsiedlungen im Rahmen eines sogenannten „Bevölkerungsaustausches“ zwischen Griechenland und der Türkei vor. Die armenische und kurdische Bevölkerung konnte ihren Wunsch nach Autonomie und einem eigenen Staat im Vertrag nicht durchsetzen. Dies führte unter anderem dazu, dass Kurdistan geographisch und politisch auf vier Staaten (Türkei, Syrien, Irak und Iran) verteilt ist.

Mîrkan Deniz rückt den Ort des historischen Geschehens in den Mittelpunkt und geht der Frage nach, inwieweit Räume, Artefakte und Alltagsgegenstände als (stille) Zeugen dieser Ereignisse auch Geschichte(n) in sich tragen. Es handelt sich um eine künstlerische Forschung, die Architekturen und Räume durch Rekonstruktion und Intervention untersucht, um auf vergangene Ereignisse, deren Geschichtsschreibung und kollektive Erinnerung zu verweisen. Politische Verhandlungen wie der Friedensvertrag von Lausanne, deren Auswirkungen bis in die Gegenwart reichen, werden so wieder sichtbar gemacht und eröffnen eine Ebene der Verhandlung.

Mit dieser und anderen Werken begibt sich Mîrkan Deniz auf eine historische Spurensuche und verarbeitet diese anhand von Rekonstruktionen oder Zitaten zu konzeptuellen Arbeiten in den Medien Film, Installation und Skulptur. Dabei interessiert they das Spannungsfeld zwischen Material und immateriellen Effekten (Traumata, unausgesprochene Erfahrungen und Erinnerungen). Wie kann ein Objekt (eine Skulptur) diese Spannung aufrechterhalten und gleichzeitig die Beziehung zwischen Vergangenheit, Gewalt und Subjektivität untersuchen? So verwendet they beispielsweise Repliken von Gegenständen,die einen historischen Bezug zu einem konkreten Ereignis herstellen oder dieses repräsentieren. Für die Arbeit Masa, 2015/16, wurde eine Kopie des Tisches anfertigt, auf dem der Lausanner Friedensvertrag unterzeichnet wurde. Das Original hatte der Schweizer Bundespräsident Pascal Roger Couchepin im Jahr 2008 der Türkei geschenkt. Daraufhin organisierte Mîrkan Deniz zwei verschiedene künstlerische Aktionen: Die erste Aktion fand 2015 vor dem Palais de Rumine in Lausanne statt, wo der Vertrag unterzeichnet wurde. Ein Jahr später wurde eine weitere Aktion vor dem Bundeshaus in Bern wiederholt. Das „Geschenk“ wurde bis heute abgelehnt. Der Tisch ist derzeit in der Ausstellung frontières im Musée Historique Lausanne zu sehen.

Auch eine der jüngsten Installationen, On the fringes, 2022, bezieht sich auf das Ereignis von 1923: Ein orientalischer Teppich mit überlangen Fransen, in den die Jahreszahl 1923 eingewebt ist, wird zusammen mit anderen Alltagsgegenständen präsentiert. In den letzten Jahren haben Demonstranten in Palästina, Kurdistan und im Libanon mit ähnlichen Teppichen die Straßen bedeckt und so ihre eigenen Zufluchts- und Kampforte im öffentlichen Raum definiert. Die langen Fransen des Teppichs weisen darauf hin, dass die Proteste und Geschichte noch nicht zu Ende sind. Anhand dieser Werke und der hier gezeigten Videoarbeit wird deutlich, dass Mîrkan Deniz in them präzisen Auseinandersetzung mit einem historischen Ereignis die Vergangenheit mit der Gegenwart verbindet und so einen vielstimmigen Erinnerungs- und Verhandlungsraum eröffnet.

Mîrkan Deniz lebt und arbeitet (staatenlos, geb. 1990) in Zürich. Mîrkan Deniz erhielt in den vergangenen Jahren den Junge Akademie Preis der Akademie der Künste Berlin (2017), die Swiss Art Awards (2019) und den Kunstpreis der Stadt Zürich (2020). Zu ihren letzten Einzelausstellungen gehören: frontières im Musée Historique Lausanne (2023), öffentliche Kunstaktion und Performance performing in a room with history, Lausanne (2023), sowie in der Akademie der Künste Berlin (2017). Außerdem hat Mîrkan Deniz an den folgenden Gruppenausstellungen teilgenommen, unter anderem im Aargauer Kunsthaus (2020-2021), im Haus Konstruktiv, Zürich (2021) und im Helmhaus Zürich (2020).

Text Cynthia Krell

95th Anniversary of the Treaty of Lausanne at the Château d’Ouchy, 2018
HD Video, Farbe, Ton
10:00 Min.
Courtesy Mîrkan Deniz 

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15.23 Lili Reynaud-Dewar
TEETH GUMS MACHINES FUTURE SOCIETY

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15.23 Lili Reynaud-Dewar
TEETH GUMS MACHINES FUTURE SOCIETY
15.7.–14.9.23
Das Video beginnt mit einer langen Kamerafahrt aus einem Auto heraus durch die Stadt Memphis. Zu sehen sind typisch amerikanische Straßenzüge und Gebäude, die an Szenen aus Filmen oder Musikvideos erinnern. Memphis, Tennessee, liegt an der Grenze zwischen dem reichen Mittleren Westen und dem ärmeren Süden der Vereinigten Staaten. Die Künstlerin wählte diese Stadt als Schauplatz aufgrund ihres historischen Hintergrundes. Mehr
Denn in Memphis befand sich sowohl das Epizentrum des amerikanischen Sklavenhandels als auch der späteren Bürgerrechtsbewegung. Eines der bekanntesten Ereignisse in diesem Zusammenhang war der so genannte Sanitärstreik von 1968, der durch die Ermordung von Martin Luther King Jr. noch verschärft wurde. Memphis ist auch ein Zentrum der amerikanischen Musikgeschichte, vor allem bekannt für seine Bluesmusik, die letzte Ruhestätte von Elvis Presley und ein Hotspot der Rap- und Hip-Hop-Musikszene. 

Auch die schwarze Musikkultur spielt in diesem Video eine wichtige Rolle. Hier in Form eines Kultgegenstandes, des sogenannten Grill – ein glänzendes Schmuckstück aus Edelmetall, das über den Zähnen getragen wird. Der Grill gilt als Statussymbol und manchmal als Reliquie der Rap- und Hip-Hop-Kultur, die ersten Modelle gab es bereits Anfang der 1980er Jahre. In diesem Video hat Lili Reynaud-Dewar mit vier lokalen Komiker:innen, Weißen und People of Color, zusammengearbeitet, um kontrovers über die kulturelle Aneignung von Grillz zu diskutieren. Als weiße, europäische Künstlerin ist sie sich des Aktes der kulturellen Aneignung bewusst und provoziert die damit verbundenen Fragen und anhaltenden Debatten unserer Zeit. In Close-up-Aufnahmen wird das Einsetzen der Grillz in den Mund inszeniert, indem sowohl die Künstlerin als auch alle Comedians einen individuell angefertigten goldenen Grill benutzen. Für Reynaud-Dewar bilden die Zähne eine Schnittstelle, eine Schwelle zwischen öffentlichen und privaten Räumen der Erscheinung.

Ein weiteres wiederkehrendes Motiv im Video ist Müll, der in verschiedenen Situationen auftaucht. Es gibt mehrere Szenen, in denen Menschen explizit Müll auf die Straße werfen, Papier zerknüllt wird und animierter Müll (Dosen, Papier, Verpackungen etc.) durch die Stadt fliegt. Dieses Motiv bezieht sich auf den Sanitärstreik von 1968, bei dem überwiegend schwarze Arbeiter:innen der Müllabfuhr in Memphis streikten, weil die Bezahlung so niedrig und die Arbeitsbedingungen sehr gefährlich waren. Am 3. April 1968 hielt Martin Luther King Jr. seine berühmte Rede anlässlich des Streiks – nur einen Tag später wurde King in Memphis ermordet. Ein Gesprächspartner aus dem Video sagt passenderweise: „What Memphis has that is unique, is failure.“ / „Was Memphis einzigartig macht, ist das Scheitern.“ Die doppelte Metapher der Verschwendung – des politischen Potenzials und des buchstäblichen Mülls – bringt diese Arbeit symbolisch zusammen.

Das Video gipfelt am Ende in einer inszenierten Performance, die auf einer muschelförmigen Betonbühne aufgeführt wird, die historisch selbst als Konzertbühne für viele lokale, später berühmte Musiker:innen dient(e). Das auf der Bühne verteilte Mobiliar erinnert stark an die konzeptuell-abstrakten Skulpturen (z.B. Standing Open Structure Black, 1964) von Sol LeWitt. Auf einem solchen Hochstuhl sitzend rezitiert eine weiße, als weiblich gelesene Person, das sozialistisch-feministische Manifest A Cyborg Manifesto, 1985, von Donna Haraway. Parallel dazu kommentieren und improvisieren vier Stand-up-Comedians, begleitet wird dieser vielstimmige Chor zusätzlich von einem Sound-DJ. Das Manifest dient nicht nur als Textmaterial, sondern bildet vielmehr die inhaltliche Klammer für die Performance und das Video. In dem Essay beschreibt die Autorin die Entstehung eines neuen Wesens, das sie als „Cyborg“ bezeichnet, eine Mischung aus Mensch und Maschine. Haraway argumentiert, dass traditionelle Vorstellungen von Geschlecht, Rasse und Identität zunehmend irrelevant werden, da sich diese Kategorien durch technologischen Fortschritt und wissenschaftliche Entwicklungen vermischen.

In Haraways Vision ist der Cyborg keine Bedrohung, sondern ein Zeichen der Hoffnung auf eine neue Gesellschaftsordnung, in der Ablehnung und Ausgrenzung überwunden sind. Die Künstlerin verwebt das Manifest auf unterschiedliche Weise und stellt so einen Gegenwartsbezug her, der sich auch im Jahr 2023 manifestiert: Zum einen dient der Text als Quelle und wird auszugsweise in der Performance vorgelesen. Zum anderen fließen die Grundgedanken des Manifests in die Gespräche und Diskussionen zwischen der Künstlerin und den Komiker:innen ein, in denen es unter anderem um die Ursachen der Ausgrenzung von Minderheiten geht. Nicht zuletzt erinnern die Grillz selbst an eine futuristische Körpermodifikation und stehen in der Tradition von (ästhetischen) Körperprothesen, die Defizite des menschlichen Körpers ausgleichen und optimieren sollen. 

Wie der Titel des Videos TEETH GUMS MACHINES FUTURE SOCIETY zusammenfasst, enthält es Leitlinien für eine nahe, von Menschen gemachte Zukunft, die wesentlich von (KI-)Maschinen und sozialen Neuordnungen in der globalen Welt geprägt sein wird. Durch historische Rückgriffe und kulturelle Aneignung eines Kultobjektes schlägt die Künstlerin eine Brücke zu gesellschaftlichen Fragen nach Rassismus, Ausgrenzung von Minderheiten und dem Umgang damit in der Gegenwart. Dabei bezieht sie keine eindeutige, aufklärerische Position, sondern untersucht diese Phänomene mit humoristischen Mitteln und schafft dadurch eine distanzierte Haltung, die wiederum eine Positionierung der Betrachter:innen einfordert. Die Künstlerin komponiert eine mehr als zufällige Konstellation von Begriffen und Objekten, Zitaten und historischen Bezügen, bewegt sich gekonnt in diesen Verstrickungen, nicht um sie zu entwirren, sondern um sie aufzulösen durch den vielstimmigen Chor, den Reynaud-Dewar versammelt, um die Orte aufzuspüren, an denen sie sich überschneiden und Schnittstellen bilden. Gerade heute, wo die Zukunft weniger utopisch denn je erscheint.

Lili Reynaud-Dewar hat in den letzten Jahren ein komplexes Werk entwickelt, das immer wieder um Begriffe der kulturellen, sozialen und auch emotionalen Identität kreist. Sie schafft Objekte, Videoinstallationen, Filme, Zeitschriften (Pétunia), allein oder mit ihren Freund:innen oder Student:innen und erinnert dabei an transgressive Figuren der kulturellen Produktion des 20. Jahrhunderts wie Josephine Baker, Guillaume Dustan, Bjarne Melgaard, Cosey Fanni Tutti oder Pier Paolo Pasolini. Ihr Werk dreht sich nicht um ein bestimmtes Thema oder eine bestimmte Debatte, sondern versucht, soziale und politische Fragen in den Bereich der Ästhetik zu übertragen und Widersprüche sichtbar zu machen. Sie bricht bewusst mit Konventionen und Traditionen, um diese zu untersuchen und einen Denkraum zu schaffen, in dem sich die Betrachter:innen ihr eigenes Bild machen können und müssen. 

Lili Reynaud-Dewar (*1975 in La Rochelle, Frankreich; lebt und arbeitet in Paris und Grenoble) studierte Öffentliches Recht und Ballett, bevor sie ihr Kunststudium an der École Régionale des Beaux-Arts in Nantes aufnahm. Im Jahr 2003 schloss sie ihr Studium an der Glasgow School of Art mit einem MFA in Bildender Kunst ab. In dieser Zeit begann sie auch, kritische Texte zu schreiben. Einzelausstellungen und Projekte von Reynaud-Dewar waren u.a. zu sehen im Palais de Tokyo, Paris (2023), im Musée d’Art Contemporain de Montréal, Kanada (2023), im Museum für angewandte Kunst, Wien (2023), im Kunsthaus Bregenz (2018), im Monash University Museum of Art, Melbourne (2017), im Artpace San Antonio, Texas (2017), in der Vleeshal, Middelburg (2017), im Museion, Bozen (2017), im Kunstverein in Hamburg (2016) sowie im Bielefelder Kunstverein (2011). Ihre Arbeiten wurden in zahlreichen Gruppenausstellungen gezeigt, darunter wichtige Biennalen wie die 56. Biennale von Venedig (2015), die Biennalen von Lyon (2007/2013) und Marrakesch (2014), La Triennale im Palais de Tokyo in Paris (2012), sowie die 5. Berlin Biennale (2008). Zusammen mit Dorothée Dupuis und Valérie Chartrain ist sie Mitbegründerin und Redakteurin der Zeitschrift Pétunia.

Text Cynthia Krell

TEETH GUMS MACHINES FUTURE SOCIETY, 2016
HD Video, Farbe, Ton
35:59 Min.
Courtesy die Künstlerin und Layr, Wien.

Dokumentation Felix Hüffelmann

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14.23 Julien Creuzet
Assidule

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14.23 Julien Creuzet
Assidule
15.5.–14.7.23
Julien Creuzet, 1986 in einem Pariser Vorort geboren, ist ein französischer Künstler, dessen Werk stark von seiner Kindheit auf Martinique geprägt ist. Aufgewachsen auf der Karibikinsel, wo verschiedene Kulturen aufeinandertreffen, spiegelt Creuzets Werk die Verschmelzung afrikanischer, indigener und europäischer Traditionen wider. Seine oft raumgreifenden Installationen aus Skulpturen, Bild-Displays, Sound- und Videoarbeiten sind stark von seiner Biografie und seinen kulturellen Einflüssen geprägt. Mehr
Er verwendet sowohl gefundene Objekte und Materialien als auch kulturell kodierte Alltagsgegenstände. Seine künstlerische Praxis geht jedoch nicht nur von seinen eigenen Erfahrungen aus, sondern ist vielmehr ein Echo auf die kollektiven sozialen Realitäten der karibischen Diaspora. Julien Creuzet konzentriert sich auf die problematische Schnittstelle zwischen karibischer Geschichte und europäischer Moderne. Die visuellen und akustischen Sprachen, die in seinen Installationen zusammentreffen, bewegen und transformieren sich durch einen Prozess der Kreolisierung. Sie treten in einen Dialog mit der Frage der Emanzipation, dem Geist schwarzer Selbstbehauptung und dem Gefühl seiner Diaspora-Erfahrung. Julien Creuzet hat eine künstlerische Praxis entwickelt, die auf poetische, sinnliche und emotionale Weise mit den Betrachter:innen interagiert, um die eigenen kulturellen Selbstverständlichkeiten, Privilegien und Codes zu hinterfragen.

Die Videoarbeit Assidule, 2019, ist ein hypnotisches Werk, das die Kollision von Begegnungen als Ansteckung interpretiert und inszeniert. 3D-Objekte, die Goldplättchen oder Geld ähneln, bewegen sich durch eine höhlenartige Arterie eines Lebewesens und kreuzen sich dort mit einem Messer, der französischen Nationalflagge und einem Schiff voller gestapelter Frachtcontainer. Es folgen kontrastreiche, teils surreal-skurrile Bildlandschaften, die abwechselnd eingeblendet werden: ein schwarzes, unendliches Universum voller unbekannter umherschwirrender Objekte wie etwa zuckende und bunte Pillen ausspuckende Bananen, eine stark verpixelte Tanzszene mit nicht erkennbaren Personen in Rot und Schwarz, unterlegt mit Textzeilen, pulsierende Bananenstauden in einem immergrünen Bananenpalmenwald, animierte weibliche und männliche Geschlechtsteile umgeben von Flugzeugen. Diese visuellen Eindrücke wecken vielfältige Assoziationen, erinnern an (natur-)wissenschaftliche Erklärfilme, an Musikvideos der 1990er Jahre, an surreale Traumsequenzen oder an fantastische Computerspielelandschaften. Dennoch entziehen sich diese Bilder unserer rationalen Einordnung und es bleibt ein offener, opaker (Erzähl-)Raum, der dadurch eigene Emotionen und Erinnerungen erzeugt. 

Julien Creuzets poetische Reflexionen über rassifizierte Körperlichkeit nehmen uns mit auf eine Reise durch eine atemberaubende, kinetische visuelle Landschaft, begleitet von einem Soundtrack, der das afrikanische Erbe des Künstlers unterstreicht. Der Liedtext ist auch der Werktitel einer Skulptur, die zeitgleich zum hier gezeigten Animationsfilm entstanden ist: Mon corps, carcasse, se casse casse casse / Mon corps canne à sucre flèche flèche flèche / Mon corps banane est en larme larme larme / Mon corps peau noire, au coucher du soleil, / ne trouve le sommeil / Mon corps plantation poison / Mon corps plantation poison / Mon corps plantation / Demande la rançon / La pluie n’est plus la pluie / La pluie goutte aiguille / La pluie acide pesticide / La pluie infanticide / Mon père vivait près de la rivière / La rivière était à la lisière / Du champ de banane pour panam / Banane rouge poudrière / Sous les tropiques du Cancer, 2019.¹ Der Text wurde eigens dafür geschrieben und mit einer dynamischen und fröhlichen Afro-Pop-Musik untermalt. Eine Anspielung auf die Musikkulturen der Karibik, in der sich Fröhlichkeit und Traurigkeit vermischen. Der Liedtext transportiert jedoch eine widersprüchliche Geschichte, die auf eine historisch reale Umweltkatastrophe auf Martinique und Guadeloupe zurückgeht. Damals wurde zwischen 1972 und 1993 Chlordecon, ein Pestizid, zur Bekämpfung eines Bananenschädlings eingesetzt. Dieses verseuchte Böden, Flüsse und Grundwasser, was schwerwiegende gesundheitliche und ökologische Folgen für die Menschen vor Ort hatte.

In der Videoarbeit Assidule tauchen wiederkehrende Themen und Bezüge des Künstlers auf, die sein Werk prägen: So verweist Julien Creuzet auf das positive und kreative Potential der Kreolisierung (bezeichnet heute den Zustand kultureller Vermischung). Dabei bezieht er sich immer wieder auf den in der Karibik geborenen Schriftsteller und Kulturphilosophen Édouard Glissant (1928–2011), der als Vordenker zu Fragen postkolonialer Identität und Kulturtheorie gilt. Der Künstler begründet sein Interesse wie folgt: „Ich bevorzuge den Begriff ‚Kreolisierung‘. Er ist viel passender, weil er das Aufeinandertreffen verschiedener Kulturen widerspiegelt und zeigt, wie kulturelle Begegnungen neue Dinge hervorbringen können, anstatt sie zu konsumieren, wie in der historisch belegten Beziehung des Siedlerkolonialismus. Kreolisierung basiert für mich auf einem Verständnis der Positionierung des Körpers als Kontaktpunkt beim Aufbau von Erfahrungsmacht und Selbstbestimmung.“² Dieser Ansatz zeigt sich auch in dem Video, wo Bilder- und Tonwelten, sowie Körperlichkeiten aus verschiedenen Kulturen miteinander kombiniert werden. Er fasst seine Intention wie folgt zusammen: „Bilder von Begegnungen zu schaffen, unwahrscheinliche Bilder, kann die Vorstellungskraft aller anregen. Ein Behälter, eine Fahne und eine Machete in einer Höhle sagen also eine Menge aus. Für mich ist es wichtig, den interpretativen Teil jedes Elements nicht zu reduzieren. Die Kreolisierung als Ansteckung zu kontextualisieren, gibt der Komplexität und den Parametern des Seins einen gewissen Spielraum, vor allem für diejenigen, die damit vertraut sind, verschifft und überwacht zu werden.“³ Die beschriebenen Prozesse der kulturellen Vermischung, Identitäten und Narrative sind für westlich sozialisierte Betrachter:innen oftmals nicht Teil der eigenen Biografie und somit nicht als eigener Erfahrungshorizont nachvollziehbar. Umso wichtiger, dass Künstler:innen aus dem globalen Süden durch ihren Blick den dringend notwendigen Perspektivwechsel ermöglichen, um der kulturellen Dominanz des Westens entgegen zu treten.

Ganz wesentlich für die künstlerische Praxis von Julien Creuzet ist auch der Prozess der Poetisierung, die er mit den folgenden Worten beschreibt: „Das ist derselbe Grund, warum ich das poetische Format meiner Titel bevorzuge: Die Poesie bietet die Möglichkeit, eine andere Stimme zu verwenden. Die Vielzahl der Formen und Materialien schafft diesen Freiraum, ohne den die Kunst keinen Sinn hat. Sie bietet mir auch die Möglichkeit, der ständigen Tendenz zu widerstehen, zu erklären, was ich tue, wie ich es tue oder für wen ich es tue, und mich mehr auf die befreienden Aspekte der Phantasie, des Spiels, der Form und des Gefühls zu stützen.“⁴ Wer sich auf Julien Creuzets Bildwelten einlässt, kann diesen Möglichkeitsraum erfahren und daran teilhaben, wie neue Erzählungen und Freiräume entstehen, die den eigenen Wahrnehmungs- und Erfahrungshorizont erweitern. 

Julien Creuzet (geb. 1986, Le Blanc-Mesnil, Frankreich) lebt und arbeitet heute in Paris. Er studierte an der École supérieure d’arts & médias de Caen/Cherbourg, absolvierte ein Postgraduiertenstudium (Bildende Kunst) an der École nationale supérieurre des beaux-arts de Lyon und an dem Le Fresnoy – Studio national des arts contemporains. Zuletzt hatte Julien Creuzet Einzelausstellungen im Luma Arles, Frankreich (2022), im Camden Art Centre, London, Vereinigtes Königreich (2022), im Centre Pompidou für den Prix Marcel Duchamp, Paris, Frankreich (2021), im Palais de Tokyo, Paris, Frankreich (2019), im CAN Centre d’art Neuchâtel, Schweiz (2019) und in der Fondation d’entreprise Pernod Ricard, Paris, Frankreich (2018). Er nahm an verschiedenen Gruppenausstellungen und Biennalen teil, darunter im Museum of Contemporary Art Chicago, USA (2022), im Museum Tinguely, Basel, Schweiz (2022), im KAI10, Düsseldorf (2021), im SAVVY Contemporary, Berlin (2021), im Wiels Contemporary Art Centre, Brüssel, Belgien (2021), im Rahmen der Manifesta 13, Marseille, Frankreich (2020), der Kampala Biennale, Uganda (2018) und der 12. Gwangju Biennale, Südkorea (2018).

www.juliencreuzet.com

Text Cynthia Krell
Übersetzung Amy Patton

Credits zum Video
Assidule, 2019
HD-Video, Farbe, Ton
07:43 Min.
Courtesy der Künstler, DOCUMENT Gallery, Chicago, Andrew Kreps Gallery, New York und High Art, Paris / Arles.

Musik Mo Laudi
Visuals Pierre Le Cann
Mit Unterstützung von Fondation d’entreprise Ricard, Nuit Blanche 2019

¹ Eigene Übersetzung: Mein Körper, ein Gerippe, bricht auseinander bricht auseinander bricht auseinander / Mein Zuckerrohrkörper Pfeil Pfeil Pfeil / Mein Bananenkörper weint weint weint / Mein Körper schwarze Haut, bei Sonnenuntergang, / kann nicht schlafen / Mein Plantagengiftkörper / Mein Plantagengiftkörper / Mein Plantagenkörper / verlangt Lösegeld / Der Regen ist nicht mehr der Regen / Der Regen tropft Nadeln / Saurer Regen Pestizid / Kindsmörderischer Regen / Mein Vater lebte am Fluss / Der Fluss war am Rand / Vom Bananenfeld für Panam / Rote Banane Pulverfass / In den Tropen des Krebses

² Pieterson, Mark: „REFRAMING OCEANIC TOPOLOGIES Mark Pieterson in conversation with Julien Creuzet“, in: Texte zur Kunst, Online-Artikel, 29. September 2022, https://www.textezurkunst.de/de/articles/mark-pieterson-with-julien-creuzet-reframing-oceanic-topologies/

³  Pieterson, Mark: „REFRAMING OCEANIC TOPOLOGIES Mark Pieterson in conversation with Julien Creuzet“, in: Texte zur Kunst, Online-Artikel, 29. September 2022, https://www.textezurkunst.de/de/articles/mark-pieterson-with-julien-creuzet-reframing-oceanic-topologies/

⁴  Pieterson, Mark: „REFRAMING OCEANIC TOPOLOGIES Mark Pieterson in conversation with Julien Creuzet“, in: Texte zur Kunst, Online-Artikel, 29. September 2022, https://www.textezurkunst.de/de/articles/mark-pieterson-with-julien-creuzet-reframing-oceanic-topologies/

 

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13.23 Sven Johne
A Sense of Warmth

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13.23 Sven Johne
A Sense of Warmth
15.3.–14.5.23
„Ich konnte nicht mehr richtig schlafen. Wochenlang. Millionen Gedanken im Kopf, ständiges Grübeln: Job, Geld, Beziehungen. Scheiß Selbstverwirklichung. Woran sonst denkt ein Mensch in der modernen westlichen Welt – außer an seine Unvollkommenheit?“ Mit diesen persönlichen Worten bringt eine junge Frau ihre Selbstzweifel in dem Video A Sense of Warmth, 2015, auf den Punkt. Doch das ist nur der Anfang einer tiefer gehenden Gedankenspirale über das Ich der Hauptfigur, das in Versagensängsten und Identitätskrisen gefangen ist. Mehr
Zu diesen Selbstaussagen kontrastieren fast meditative, schwarz-weiße Naturaufnahmen: am Himmel fliegende Vogelschwärme, die sich immer wieder neu formieren, verwilderte Landschaften mit Bäumen und Sträuchern sowie eine lange Überfahrt mit einem Fischerboot (Mindy) vom Festland zu einer unbekannten Insel. Diese Naturbilder zeugen vom Neuanfang auf der Naturschutzinsel und lassen uns aus der Perspektive der Erzählerin die schlichte Schönheit der Natur wahrnehmen, die sinnbildlich für den Aufbruch in ein besseres, nachhaltiges Leben steht. 

Mit der Ankunft auf der Naturschutzinsel verdichtet sich die scheinbar autobiografische Erzählung der Hauptfigur, einer 33-jährigen Diplompsychologin namens Melinda, genannt Mindy. Auf der dort ansässigen Beringungsstation arbeiten Freiwillige an der wissenschaftlichen Erfassung von Zugvögeln. Sehr detailliert beschreibt sie die dort nachhaltig lebende Selbstversorgergemeinschaft mit all ihren Vorzügen: „wir leben hier ohne Supermarkt, ohne Lärm, ohne TV. Wir leben hier ohne Internet, ohne Social Media. Wir leben ein sehr simples Leben.“ In ihrer Stimme liegt eine nachvollziehbare Begeisterung für diese zurückgezogene Lebensweise, da sie konsequent abgeschirmt von den Konsumzwängen, kapitalistischen Mechanismen und Selbstoptimierungszwängen der westlichen Welt zu sein scheinen und ein angstfreies Leben leben. Dennoch ahnt man unbewusst, dass ein perfektes Glashausleben nicht existiert.

Akribisch schildert die Erzählerin die einzelnen Arbeitsschritte, die bei der Erfassung der Zugvögel in der Beringungsstation anfallen: Vögel aus den Fangnetzen befreien, untersuchen, wiegen, vermessen, beringen, wieder freilassen und alle dazugehörigen Daten auf dem Computer erfassen. Der paradiesische Zustand bekommt nach zwei Jahren einen gewaltigen Riss, denn durch eine prozessoptimierte Auswertung und Analyse der Daten wird das biologische Problem der „Invasion“ sichtbar. Dabei handelt es sich um Zugvögel, die sich auf der Insel angesiedelt haben und mit ihrer Ausbreitung das Ökosystem der Insel durcheinander bringen, aber auch die Existenz des gesamten Naturschutzprojektes gefährden. Die pragmatische Lösung besteht darin, Vögel, die sich zum dritten Mal in den Netzen verfangen, zum Einschlafen hängen zu lassen, um somit die Datenbasis grundlegend zu „korrigieren“.

An mehreren Stellen im Film wird die Ambivalenz und Brüchigkeit des guten Lebens auf der Insel, trotz ihrer Naturnähe und Abgeschiedenheit, deutlich spürbar. Auf der einen Seite steht der manipulative Eingriff des Menschen in das Ökosystem der Insel, der das Naturschutzprojekt auf Kosten der Natur und der Doppelmoral legitimiert. Zum anderen findet auf der persönlichen Ebene ein Sinneswandel der Protagonistin statt, die ihr eigenes Gewissen dem Dogma eines guten Lebens und sinnvollen Handelns unterordnet. Mit dem Verliebtsein der Protagonistin findet der Film seinen Höhepunkt. Beim Abnehmen der toten Vögel aus den Fangnetzen erinnert sie sich an die Wärme, die sie bei der Überfahrt auf die Insel verspürte, und daran „wie das Leben zurückkehrte“. Ein paradoxes Gefühl, so nahe beieinander wie das pralle Leben und der leise Tod.

Der Widerspruch wird aber durch die romantische Liebe nicht aufgehoben, sondern überhöht und verschleiert nur die Manipulation und das Gottspiel des Menschen. Sven Johne verdichtet dieses unauflösbare Dilemma, indem die Kamera gnadenlos und in Nahaufnahme die im Netz verhedderten, teilweise noch zuckenden Vögel aufnimmt. Die Vögel versuchen sich zunächst noch mit aller Kraft zu befreien, doch mit zunehmender Erschöpfung resignieren sie, um sich dann ein letztes Mal aufzubäumen. Diese Bilder könnten einen lauten Schrei der Empörung oder ein Gefühl der Ohnmacht auslösen – beim Anblick einer solchen Grausamkeit, die von Menschen verursacht wurde. Sie provozieren und fordern uns auf, uns dazu zu positionieren, egal ob sachlich distanziert oder emotional berührt.

Was bleibt, ist ein Unbehagen an den Widersprüchen des Lebens, die es moralisch auszuhalten gilt, ein Schwebezustand zwischen Fiktion und Dokumentation, ein Ausbalancieren von Distanziertheit und Involviertheit. Auf fast unspektakuläre Weise verhandelt Seven Johne sowohl persönliche als auch gesellschaftliche Herausforderungen unserer Zeit, schafft einen disruptiven Resonanzraum, um das eigene Selbstverständnis, Denken und Handeln zu reflektieren. Die absurde, hilflose Isolation der Protagonistin und ihre Flucht in die Liebe erscheinen jedoch bald beunruhigender als die Grausamkeit des Menschen.

Sven Johne konstruiert in seinen Fotografien, Text-Bild-Serien, Filmen und Videos komplexe Erzählungen, die das Verhältnis von Fiktion und Dokumentation ambivalent verhandeln. Oft wird bewusst ein diffuser Schwebezustand erzeugt, der in Verbindung mit heroischen, aber auch teilweise tragischen Identitätsfiguren und deren Geschichten mit regionaler Verortung, aktuelle Herausforderungen und Fragen unserer Zeit aufgreift. Dennoch gibt es wiederkehrende Motive und Themen, die den Künstler seit Anfang der 2000er Jahre beschäftigen, wie die ostdeutsche Geschichte, die Wechselwirkung von Topografie, Geschichte und Mensch, die Analyse menschlicher Charaktere sowie das Wechselspiel von Fiktion und Dokumentation. Aber auch aktuelle politische Ereignisse oder globale Phänomene werden von Sven Johne in seinen Arbeiten aufgegriffen und durch Überzeichnung in Szene gesetzt. Durch das Archetypische in Verbindung mit berührenden Biografien erreicht der Künstler einen hohen Identifikationsgrad, der das historische oder regionale Geschehen in einen globalen Kontext stellt und somit auch für die Gegenwart von Bedeutung ist.

Sven Johne (*1976 in Bergen, lebt und arbeitet in Berlin) studierte an der Universität Leipzig, an der HGB Leipzig und am International Studio and Curatorial Program ( ISCP) in New York. Zuletzt hatte er Einzelausstellungen u.a. in der Kunstsammlung Jena (2022), in der Galerie Nagel Draxler, Köln (2022), im Kunstmuseum Kloster Unserer Lieben Frauen, Magdeburg (2021), im MUDAM, Luxemburg (2021), (mit Falk Haberkorn) in der Galerie Klemm’s, Berlin (2019), im HMKV / Hartware Medienkunstverein (Video des Monats), Dortmund (2019) und im Hessischen Landesmuseum, Darmstadt (2019). Er nahm an verschiedenen Gruppenausstellungen teil, darunter an der 12. Berlin Biennale, Berlin (2022), in der Kunststiftung DZ Bank, Frankfurt am Main (2022), im Museum Morsbroich, Leverkusen (2022), in der MAST Collection / Fondazione MAST, Bologna, Italien (2022), in der Weserburg Museum für moderne Kunst, Bremen (2021), im Ludwig Forum für Internationale Kunst, Aachen (2020), in der Philara Collection, Düsseldorf (2020), an der Karachi Biennale, Pakistan (2019), an der Riga Biennale RIBOCA, Riga, Lettland (2018) sowie an der Triennale der Photographie, Hamburger Kunsthalle, Hamburg (2018).

Text Cynthia Krell
Übersetzung Amy Patton

A Sense of Warmth, 2015
HD-Video, s/w, Ton
15:35 Min.
Courtesy der Künstler und Nagel Draxler Galerie, Berlin / Köln / München und Galerie Klemm’s, Berlin

Drehbuch und Regie Sven Johne
Erzählerin Laura Wilkinson
Kamera Steve Kfoury
Schnitt Sven Voß, Sven Johne
Übersetzung Dawn Michelle d’Atri

 

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12.23 Tiffany Sia
Scroll Figure #3, Scroll Figure #4

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12.23 Tiffany Sia
Scroll Figure #3, Scroll Figure #4
15.1.–14.3.23
Tiffany Sia ist Künstlerin, Filmemacherin und Autorin. Ihre künstlerische Praxis basiert auf einer intensiven Schreib- und Forschungspraxis. Dabei ist sie daran interessiert, Spannungen durch multidisziplinäre Formen zu erzeugen, um hartnäckige Vorstellungen von Geografie, Genre und Zeit zu hinterfragen. Ihre jüngsten Arbeiten, die Filme, Videos, Fotografien und Künstler:innenbücher umfassen, untersuchen die Politik und Beziehungen der Medienzirkulation sowie die Geschichten von (Hafen-)Städten. Mehr
Einige ihrer filmischen Arbeiten haben einen starken Bezug zu den aktuellsten Ereignissen in ihrer Geburtsstadt: Never Rest/Unrest, 2020, ist ein experimenteller Kurzfilm über den Zeitraum vom Frühsommer bis Ende 2019 in Hongkong. Auf einem tragbaren Mobilgerät aufgenommen, zeigt es das, was die Künstlerin als „mehrdeutige, anachronistische und oft banale Zeit“ bezeichnet hat. Tiffany Sias Kurzfilm Do Not Circulate, 2021, entstand als ein Video-Essay bestehend aus einer einzigen Medien- und Bilderspur rund um die Proteste in 2019. Sein Voiceover verwebt Leaks, Gerüchte und okkulten Aberglauben in einer einzigen Zeitleiste. Mit A Road Movie is Impossible in Hong Kong, 2021, unternahm die Künstlerin den Versuch eines einwöchigen, episodenhaften Livestream-Landschaftsfilm, der das Genre eines Roadmovies in Hongkong neu erfinden wollte.

Die Videos Scroll Figure #3 und Scroll Figure #4, sind Teil einer vierteiligen Serie. Sie analysieren das Spannungsverhältnis von Bild und Text, quer durch alle Epochen und Kulturen hinweg. Jede Videoarbeit fokussiert jeweils ein spezifisches Thema, dazu gehören die Zeitangaben und Kriegsmacht, die Netzwerkverbreitung von Bildern in den neuen Medien, das Mysterium der Städte und Landschaft(en). Alle Videoarbeiten aus der Serie sind formal gleich aufgebaut: Die Präsentation des Videos auf einem kleinformatigen Bildschirm im 4:3 Format, abgeklebt mit einer dunklen Sicherheitsfolie, erlaubt jeweils einer frontal einsehenden Person die Videoarbeit wahrzunehmen. Dadurch entsteht ein intimer Moment bei der Kunsterfahrung – ähnlich wie beim Lesen eines Buches. Wie bei einem Teleprompter, läuft jeweils ein von der Künstlerin erstellter Text, über verschiedene Archiv-Filmaufnahmen aus den 1960er und 1970er Jahren. Dabei enthalten die Texte sowohl Zitate von bekannten Schriftsteller:innen und Philosoph:innen als auch Textbausteine der Künstlerin. Die im Hintergrund laufenden, teils verpixelten Bilder erscheinen aufgrund ihrer grobkörnigen Auflösung nahezu malerisch. Sie stehen im Kontrast zu den heutigen, scharf gestochenen digitalen HD-Bildern. Es könnte sich hierbei um Original-Super 8 oder 16mm-Filme handeln, die im 4:3 Format gefilmt wurden.

Scroll Figure #3 nimmt eines der bekanntesten chinesischen Gemälde in den Fokus: Bild einer Flussuferszenerie zum Qingming-Fest, 12. Jahrhundert, des Malers Zhang Zeduan (1085–1145). Die Bildrolle (24,8 x 528,7 cm) stellt verschiedene Szenen des Alltags in der nördlichen Hauptstadt der Song-Dynastie (heute Kaifeng) während des chinesischen Totengedenktags Qingming dar. Neben dem ländlichen Leben, bildet das Hauptmotiv die Darstellung des vormodernen Stadtlebens mit detailreichen Straßenszenen. Die Künstlerin nimmt in Scroll Figure #3 motivisch Bezug auf das Gemälde: Die verwendeten Stadtansichten stammen aus den 1960er und 1970er Jahren. Sie zeigen sich wiederholende Szenen von vielen Menschen in der Stadt bei alltäglichen Aktivitäten, Häuser-Fassaden und Werbung, vorbeifahrende Autos auf einer mehrspurigen Autobahn, sowie eine Fluß-Landschaft. Durch das gedrungene 4:3 Bildformat, wird die Enge und Geschwindigkeit der Stadt bildlich spürbar. Im Kontrast dazu steht der inhaltlich dichte Lauftext, der kontinuierlich die Aufmerksamkeit der Rezipient:innen einfordert. Der Video-Essay nimmt das berühmte Rollbild als Ausgangspunkt, thematisiert die unsichtbaren Seelen der Verstorbenen, die durch die Stadt wandern, sinniert über die mediale Analogie zwischen den chinesischen Rollbildern und der Filmrolle, führt weiter zu einem Zitat des italienischen Schriftstellers Italo Calvino (1923–1985) aus seinem Prosa-Werk „Le città invisibili“ (dt. „Die unsichtbaren Städte“) von 1972, beschreibt den Himmel spiegelnde Hochhäuser-Fassaden sowie die Dominanz von Spiegelungen, Displays und Bildschirmen im heutigen Stadtbild-Raum. Hierzu passend auch das Zitat von der Künstlerin über den filmischen Charakter eines chinesischen Rollbildes: „Eingebettet in die Bildrolle ist filmisches Denken: die langsame Kamerafahrt über eine weite Landschaft, die verschiedene Zeiten auf einer linearen Ebene zeigt, die wechselnden Perspektiven und die perspektivische Verkürzung des Bildes, die Bearbeitung und Fokussierung auf einen Ausschnitt.“¹

In Scroll Figure #4 untersucht die Künstlerin das Motiv des Wasserfalls in der Landschaft und die kulturell codierte Rezeption des Erhabenen beim Betrachten von Natur und Landschaft. Die verwendeten Videos zeigen Aufnahmen von Wasserfällen aus unterschiedlichen Perspektiven und lassen das gewaltige Naturspektakel jeweils nur erahnen. Teilweise ist in Ausschnitten die Umgebung zu erkennen, teilweise verliert sich das Auge in den rauschenden, unscharfen Wassermengen, die dann zu abstrakten Farbflächen werden. Drei Wasserfälle werden namentlich erwähnt, aber welche zu sehen sind, bleibt unbekannt: die Iguazú-Wasserfälle (Argentinien/Brasilien), der Xiao Wulai Wasserfall (Taiwan) und die Urami-Wasserfälle (Japan). In einigen Szenen sind neben Flora und Fauna, einmal Schmetterlinge und Häuser deutlich zu erkennen, Menschen sind hingegen nicht sichtbar. 

Der Text bewegt sich bei Scroll Figure #4 vorwiegend auf einer medienreflexiven Metaebene zur Analogie von Wasserfall und Film. Zu Beginn wird über die Bedeutung der Betrachter:innen-Perspektive verhandelt, anschließend wird der französische Philosoph und Medientheoretiker Jean Baudrillard (1929–2007) zitiert. Die Künstlerin verwendet Baudrillards Ausführungen über die Iguazú-Wasserfälle, um exemplarisch das menschliche Eingreifen und die mediale Inszenierung von solchen Naturphänomenen aufzuzeigen. Der Video-Essay endet mit Anmerkungen über den jahrhundertelangen, historisch geprägten Wahrnehmungsprozess von Landschaft durch das westliche Konzept des Erhabenen („Sublimen“) in der Natur, dabei konstatiert sie: „Es gibt eine Menge Bedeutung, die man auf solche Landschaftsmysterien projizieren kann.“ Dabei wird deutlich, dass das was wir heute mit Landschaft meinen, immer nur ein kulturell geprägter Ausschnitt ist – wie auch ein Bild, ein Film und der damit verbundene Rezeptionsprozess. Um das Erhabene aus dem Feld der Poesie exemplarisch aufzuzeigen, zitiert sie weiterhin ein Gedicht des japanischen Haiku-Meisters Matsuo Bashō (1644–1694), der die Urami-Wasserfälle aus einer dahinter liegenden Höhle poetisch beschreibt: „Schweigend eine Weile in einer Höhle/ beobachtete ich einen Wasserfall,/ Eine der ersten/ Beobachtungen des Sommers.“

Durch die Kombination von Text- und Bildelementen aus unterschiedlichen medialen Kontexten und Epochen, schafft Tiffany Sia neue intermediale und interkulturelle Narrative, die westlich zentrierte Wahrnehmungsmodi und Lesarten von Bildern oder Filmen in jeglicher Form konterkarieren. Sie hinterfragt die Grenzen des Mediums Bild und erweitert den westlich zentrierten Interpretationsraum durch Querbezüge aus dem ostasiatischen Raum.

Das Bindeglied und die Rolle der Interpretierenden übernehmen die Betrachter:innen, zumeist als Einzelperson, da erst ihre kulturell geprägte Wahrnehmung ihnen Zeitlichkeit und körperliche Präsenz – insbesondere im öffentlichen Raum – verleiht. Doch mit der Gleichzeitigkeit von Text und Bild werden die Betrachter:innen beim Akt des Lesens und Sehens teilweise bewusst überfordert und dabei auf sich selbst zurückgeworfen. So wie der Text und die Bilder ähnlich wie ein Echo nachhallen, umso mehr drängt sich eine Revision/Relektüre der eigenen Wahrnehmungsmodi und kulturellen Aneignungen in einer globalen Welt der medialen Bildzirkulation und Narrative auf. 

Tiffany Sia (*1988 in Hongkong, lebt und arbeitet in New York) hat am Bard College (US) und an der Qingdao University (CN) studiert. Zuletzt hatte sie Einzelausstellungen, unter anderem in der Galerie FELIX GAUDLITZ, Wien (2022) und im Artists Space, New York (2021). Mit ihren Werken nahm sie an verschiedenen Gruppenausstellungen und Screenings teil, darunter am MoMA, New York (März 2023), im Seoul Museum of Art, Seoul (2022), im Kunstverein für die Rheinlande und Westfalen, Düsseldorf (2022), im Hordaland Kunstsenter, Bergen (2021), in der The Douglas Hyde Gallery, Dublin (2021), und in der Blindspot Gallery, Hongkong (2020). Tiffany Sia hat auch an vielen Festivals teilgenommen, etwa am New York Film Festival, am Toronto International Film Festival, am MoMA Documentary Fortnight, am Flaherty Film Seminar, und am Open City Documentary Film Festival. Zu ihren Filmen und Videos zählen: What Rules The Invisible, 2022; Scroll Figure #1-#4, 2022; Do Not Circulate, 2021, A Wet Finger in the Air, 2021, A Road Movie is Impossible in Hong Kong, 2021, SEA – SHIPPING – SUN, 2021; Never Rest/Unrest, 2020.

Scroll Figure #3 / Scroll Figure #4, 2022
Video, Farbe, ohne Ton
03:51 Min. / 03:01 Min.
Courtesy die Künstlerin und FELIX GAUDLITZ, Wien
Text Cynthia Krell
Übersetzung Amy Patton

¹ Lissoni, Andrea: „Breathing Cameras: Tiffany Sia, Tiffany Sia in conversation with Andrea Lissoni“, in: Mousse Magazine, 21. April 2021, S. 144.

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11.22 Omer Fast
Garage Sale

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11.22 Omer Fast
Garage Sale
28.10.–18.12.22
Omer Fast ist Künstler und Filmemacher. Ein Großteil seiner Arbeit befasst sich mit der psychologischen Struktur von Traumata. Dabei fokussiert er auf das Verwischen von Erinnerungen sowie das Nacherzählen aktueller oder historischer Ereignisse. Seine künstlerischen Videos untergraben die formalen Vorgaben diverser Filmgenres und hinterfragen das analoge wie auch das digitale Bild als Medium zur Verbreitung von Information. In seiner Arbeit als Filmemacher definiert er, ausgehend von einem historischen Ereignis oder einem aktuellen Referenzpunkt, ein neues Verhältnis zwischen Realität und Fiktion. Mehr
Omer Fast interessiert sich für die Konstruktion von Erzählungen, insbesondere dafür, wie sich Geschichten verändern, wenn sie polyperspektivisch und vielstimmig erzählt werden. Er hat eine Vorliebe für filmische Stilmittel wie die Vermischung der Erzählebenen, veränderte Zeitstrukturen, den Wechsel zwischen Filmhandlung und Produktionsset oder das Reenactment. So entstehen verdichtete Bildwelten, die den Prozess der Geschichtsschreibung und des kollektiven Gedächtnisses verhandeln. In seinen Filmen beschäftigt er sich immer wieder mit dem Erinnern als einem Grundpfeiler der menschlichen Identität (Remainder, 2015) oder dem Umgang mit tragischen Ereignissen in Familien und psychologischen Bewältigungsstrategien, die teils absurde Züge in sich tragen (Continuity, 2012). In August (2016) widmet sich Fast dem Leben und Werk des Kölner Jahrhundertfotografen August Sander (1876–1964), der in traumartigen Sequenzen am Ende seines Lebens seinem verstorbenen Sohn und den Figuren begegnet, die er fotografiert hat. In seinen jüngsten Filmprojekten, etwa in The Invisible Hand (2018), experimentiert der Künstler auch mit VR und digitalen Technologien. Präsentiert werden diese Filme oft in dafür gestalteten Rauminstallationen, die durch ihre kulissenartigen Settings ein theatralisch-filmisches Moment in sich tragen und die Besucher*innen selbst zu Akteur*innen werden lassen. 

Fasts Film Garage Sale beginnt mit einem stark verpixelten Bild. Durch einen Zoom-Out werden die Pixel kleiner, die Umrisse von Personen in einem Innenraum deutlich erkennbar. Der Ausschnitt zeigt einen Spiegel als Bild im Bild, ein Detail aus dem sehr bekannten Doppelporträt Arnolfini-Hochzeit des flämischen Malers Jan van Eyck. Dieses entstand 1434 und ist heute in der National Gallery in London zu besichtigen. Zu sehen sind der italienische Kaufmann Giovanni di Nicolao Arnolfini und seine Braut. Die kunsthistorischen Deutungen, ob es sich dabei um eine Vermählung oder Verlobung handelt, sind bis heute umstritten. Auf der Tonebene ist permanent ein fotografisches Klicken zu hören, das den Akt des analogen Fotografierens nachahmt. Eine weibliche Stimme berichtet detailreich von der Faszination für das Gemälde und spricht über ein gescheitertes Projekt. Unterbrochen wird der Erzählfluss während des ganzen Films von knappen Anweisungen an eine dritte Person, die die Kamera bedient. Ein Kameraschwenk macht das Gemälde auf einem Puzzlecover sichtbar; durch weitere Klicks eröffnet sich der gesamte Schauplatz: ein Garagenflohmarkt mit einem Sammelsurium von nicht mehr gewollten, unnützen oder kuriosen Gegenständen in einer Vorstadt von New Jersey. Innerhalb weniger Minuten spannt die Erzählerin einen Bogen, der von van Eycks Gemälde bis zum deutsch-jüdischen Kunsthistoriker Erwin Panofsky reicht, der sich intensiv mit dem Bild beschäftigte und es im Jahre 1934 interpretierte. Mit der Nahaufnahme eines Fotos einer Doppelhaushälfte in Hannover, die einer Verwandten des Ehemannes der Erzählerin gehört, vollzieht sich im Film ein Schauplatzwechsel: Dort sitzt Tante Klara in ihrem Wohnzimmer und blättert in einem Fotoalbum.

Nach dieser Eingangsszene entwickelt sich eine komplexe und in sich verschachtelte Rahmenhandlung, die über mehrere Erzählebenen verschiedene Zeiten, (Familien-)Geschichten und Biografien, Diskurse über kulturelles Erbe, Migration und Rassismus, aber auch Objekte/Artefakte und historische Persönlichkeiten miteinander verknüpft. Ein Erzählstrang widmet sich der Frage des Umgangs mit traumatischen Ereignissen in einer Familie und wie die Erinnerung an solche Ereignisse – mal mehr verschwiegen, mal weniger ausgeschmückt – von einer Generation an die nächste weitergegeben wird. Im Film Garage Sale fungiert ein Doppelporträt von zwei Männern in SS-Uniform – Onkel Benno und Onkel Manfred – vor einer Doppelhaushälfte in Hannover als Spalt in die Vergangenheit. Plötzlich wird die Schwarzweißfotografie durch den Einsatz von Schauspieler*innen in Form eines Reenactments lebendig. Mehr Details über die konkrete Vergangenheit im Nationalsozialismus oder die Involviertheit der Verwandten werden nicht verraten. Die Protagonistin kontempliert jedoch über einen „kurzen, samtigen Moment, indem es von widersprüchlichen Möglichkeiten wimmelte“. Geprägt ist diese Szene vom gemeinsamen Schweigen bei der Betrachtung des Fotos. Sie stellt eine Reihe von offenen Fragen, die nicht beantwortet werden, sondern vielmehr auf eine Resonanz von Seiten der Rezipient*innen zu warten scheinen.

Eine Postkarte des Arnolfini-Doppelporträts auf einem Bücherregal leitet schließlich in einen kunsthistorischen Exkurs zu Erwin Panofskys Interpretation über. Im Anschluss wechselt der Schauplatz wieder zurück in die Vorstadt von New Jersey: Karen, die weiße Hausbesitzerin, trägt einen Karton mit einem Familienerbstück ihres Ehemannes Ted auf den Garagenflohmarkt heraus. Es handelt sich um die Figur eines schwarzen Jockeys, eine rassistisch anmutende Gartendekoration. Leona, eine afroamerikanische Nachbarin, blickt in den Karton und entdeckt das toxische Objekt. Daraufhin entschuldigt sich Karen für diesen Gegenstand, doch Leona besteht darauf, den Jockey zu kaufen, und lässt sich auch von Ted nicht daran hindern. Am selben Abend bringt sie den Karton mit der Figur jedoch wieder zurück. Die Erzählerin berichtet im Nachgang von einem Zoom-Gespräch mit Leona, der Hauptfigur ihres gescheiterten Projekts, und konstatiert schließlich, gerichtet an die Betrachter*innen: „Das Zoom-Gespräch hat nie stattgefunden. Die ganze Geschichte war völlig frei erfunden.“ Damit bleibt alles offen und der Künstler lässt das narrative Kartenhaus im Kopf der Betrachter*innen wieder zusammenfallen. An dieser Stelle wird auch die Doppelrolle der Erzählerin als Stellvertreterin des Künstlers selbst deutlich. Sie bleibt aufgrund ihrer Off-Stimme jedoch eine distanzierte Figur, die leichte Züge einer brechtschen Verfremdung trägt, da sie die Betrachter*innen mehrmals direkt anspricht, das Scheitern des Projektes kommentiert und den Erzählfluss kontinuierlich durch die Anweisungen unterbricht.

Am Ende vollzieht der Film eine kreisförmige Bewegung und fokussiert erneut das Gemälde von Jan van Eyck. Anhand einer Interpretation der amerikanischen Kunsthistorikerin Linda Seidel wird deutlich, dass das Tafelbild „eher die Darstellung einer Zukunftsvision denn eine Aufzeichnung vergangener Ereignisse, zumal des Austauschs des Ehegelübdes“ sei. Die wiederholte Begegnung und Auseinandersetzung mit dem Gemälde kann als Einladung des Filmemachers verstanden werden, sich solche Momente im eigenen Leben oder insbesondere in der Kunst zu vergegenwärtigen: „Ein kurzer, samtiger Moment, in dem es von widersprüchlichen Möglichkeiten wimmelt.“

Gezeigt wird der Film als dreiteilige Projektion auf drei identischen Garagentoren, die im Raum jeweils frontal zum Schaufenster installiert sind. Von Zeit zu Zeit öffnet und schließt sich eines der Tore, einer unsichtbaren Dramaturgie folgend. Die visuelle Dreiteilung des Films erfordert nicht nur eine erhöhte Aufmerksamkeit der Betrachter*innen, sondern konfrontiert sie auch mit der Unmöglichkeit, alle drei Filme auf einmal wahrzunehmen. Das Garagentor taucht nicht nur im Film auf, sondern dient hier zugleich als Projektionsfläche und physisches Objekt im Raum. Insbesondere tagsüber wirken die Garagentore wie surreal anmutende Fremdkörper im Ausstellungsraum und regen, ihrer eigentlichen Funktion beraubt, zu Spekulation an. Für gewöhnlich werden Garagentore eher als unscheinbarer Bestandteile eines Gebäudes wahrgenommen, obwohl sie zum einen das Eigentum nach außen abgrenzen und zum anderen, in geöffnetem Zustand, den voyeuristischen Blick bedienen. 

Mit dem Film Garage Sale intendiert Omer Fast jedoch nicht, das Fiktive durch das Biografische bzw. Dokumentarische zu ersetzen. Vielmehr geht es ihm darum, die Räume und Zeiten hervorzuheben, die sich zwischen den Medien und Genres, zwischen analogem Bild und digitalem Bild, zwischen der Vergangenheit und Gegenwart oder zwischen dem individuellen und dem kollektiven Gedächtnis auftun. Es gilt, sie als Punkt(um) kenntlich zu machen, an dem Bruchstellen und Widersprüche sichtbar werden, damit Kritik und Selbstreflexion beginnen können.

Omer Fast (geboren 1972 in Jerusalem) verbrachte seine frühen Jahre zwischen Jerusalem und New York. Er erhielt einen BFA von der Tufts University und der School of the Museum of Fine Arts, Boston, und einen MFA vom Hunter College in New York City. Omer Fast hatte Einzelausstellungen u. a. in der Staatlichen Graphischen Sammlung, Pinakothek der Moderne, München (2021), im Salzburger Kunstverein (2019), im Times Museum, Guangzhou, China (2018), im STUK Leuven, Belgien (2017) und im Gropius Bau, Berlin (2016). Zudem nahm Omer Fast an zahlreichen Gruppenausstellungen und Biennalen teil, wie etwa an der 12. Berlin Biennale (2022), an der dOCUMENTA (13), Kassel (2012), an der 54. Biennale di Venezia (2011) sowie an der Whitney Biennale (2008/2002).

Eröffnung Fr 28.10.22, 19 Uhr
Einführung im Vortragssaal der Kunsthalle Bielefeld
Begrüßung Christina Végh, Cynthia Krell im Gespräch Omer Fast

Garage Sale, 2022
Installation mit drei Garagentoren, Maße variabel
Drei-Kanal-Video, Farbe, Ton
29:30 Min.
Courtesy der Künstler und Dvir Gallery, Tel Aviv/Brüssel/Paris, gb agency, Paris, und James Cohan, New York
Text Cynthia Krell
Übersetzung Amy Patton
Fotos Lukas Strebel
Drehbuch, Regie und Schnitt Omer Fast
Beauftragt von ajh.pm, Bielefeld, Deutschland und Seoul Museum of Art, Südkorea

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10.22 Anri Sala
Unravel

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10.22 Anri Sala
Unravel
15.8.–9.10.22
Der in Albanien geborene Videokünstler Anri Sala erforscht in seinen Videos, Objekten und Sound-Installationen, die Beziehung zwischen Zeit und Bild, Raum und Klang. In seinen Filmen gibt es weder eine lineare Erzählung noch treten Schauspieler*innen auf. Es sind im Wesentlichen musikalische Stücke, die in den Arbeiten zu den eigentlichen Hauptfiguren werden. Die Musik und das Musikalische schreiben das Drehbuch, bestimmen die Dramaturgie und den Rhythmus. Mehr
Neben den musikalischen Qualitäten, interessiert sich der Künstler insbesondere für die Rezeptionsgeschichte, sowie deren soziale und politische Einbettung, jeweils interpretiert aus unserer Zeit. In seinen frühen Videoarbeiten aus den späten 1990er Jahren nutzte Sala vorwiegend dokumentarische Strategien, um das Leben nach dem Kommunismus in seiner Heimat Albanien zu untersuchen. Etwas später, Anfang der 2000er Jahre, verlagert sich das Interesse des Künstlers hin zu den psychologischen Auswirkungen akustischer Erfahrungen. Er kreiert mittels Musik und Klang komplexe filmische Kompositionen, die nicht nur innere Bilder beim Betrachten auslösen, sondern auch Erinnerungen wecken und Emotionen vermitteln. Seit Mitte der 2000er Jahre bindet Sala sowohl in seinen Filmen als auch bei Live-Auftritten (Performances) vermehrt Musiker*innen ein. Neben seinen bewegten Arbeiten, erschafft Anri Sala auch komplexe Objekte-Sound-Installationen mit teils historischen Instrumenten. Seine Einzelausstellungen sind dramaturgisch und räumlich – ähnlich wie ein Musikstück – komponiert, und reagieren jeweils ortsbezogen auf die Besonderheiten der (Museums-)Architektur, um den Besucher*innen ein bildhaft-akustisches Raumerlebnis zu ermöglichen.

Der Titel des Videos Unravel, 2013, bezieht sich sowohl auf das eng. Verb „unravel“ (dt. sich auflösen/etwas entwirren) als auch auf den Nachnamen von Maurice Ravel, dem Komponisten eines berühmten Klavierkonzerts für die linke Hand. In dem Video hört sich eine Frau mit Kopfhörern, eine DJane, zwei verschiedene Versionen des Concerto an und versucht sie am Turntableset zu synchronisieren. Mit höchster Konzentration und professioneller Ausdauer widmet sich die DJane dieser an sich unmöglichen Aufgabe über die gesamte Dauer der knapp zweistündigen Performance. Die Kamera umkreist einmal die junge Frau, zeigt jedoch über einen langen Zeitraum in Nahaufnahme nur die Hände beim Anhalten und Loslassen der beiden Schallplatten am Turntableset. Eher zum Ende wird der architektonische Raum sowie durch eine offen stehende Tür etwas vom Außenraum sichtbar. Es handelt sich um die monumentale Architektur des Deutschen Pavillons auf dem „Giardini“-Gelände in Venedig, wo alle zwei Jahre die Venedig Biennale stattfindet. Denn anläßlich des 50. Jubiläums des Élysée-Vertrags tauschten Deutschland und Frankreich erstmalig ihre nationalen Pavillons. Als Repräsentant Frankreichs, realisierte Anri Sala, eine dreiteilige Videoinstallation.

Die Aufnahmen wurden von den Pianisten Louis Lortie und Jean-Efflam Bavouzet, in Begleitung des Französischen Nationalorchesters, eingespielt. Der Künstler komponierte das Tempo des Konzerts für jeden Pianisten neu, so dass die beiden Aufführungen synchron und asynchron zugleich fortschreiten, um die Wahrnehmung musikalischer Echos zu erzeugen und durch dynamische Wiederholungen zu verstärken. Die scheinbar desorientierten Tempi verkomplizieren das Stück, verlängern und verkürzen es, drücken und ziehen an den Ohren und Gehirnen der Rezipient*innen – das was die DJane hört, bleibt jedoch verborgen. Es bleibt beim Versuch, gemeinsam und unabhängig voneinander, das musikalische Werk zu entwirren und aufzulösen: Es zu seinem Anfang zurückzubringen, als einheitliches und harmonisches Ganzes. Die Auflösung erfolgt ganz zuletzt mit dem letzten Takt des Concerto. So eröffnet die zeitliche Differenz zugleich einen Resonanzraum für eine klangliche Dissonanz, die das Spiel mit der Zeit in ein bildhaft-akustisches Raumerlebnis überführt. Der Künstler eröffnet nicht nur einen akustischen Resonanzraum, sondern baut eine permanente Spannung auf, welche die gewohnten Hörerlebnisse – in diesem Fall der klassischen Musik – verlässt und konterkariert. 

Anri Salas Vorgehensweise in dieser Arbeit verdeutlicht exemplarisch auch sein künstlerisches Koordinatensystem, welches er mit den folgenden Worten auf den Punkt bringt: „Musik ist ein Auslöser, ein Ausgangspunkt, aber auch ein Weg, Zeit zu kultivieren und gemäß eines Ablaufplans zu entfalten. In unserer Gesellschaft ist die Beziehung zwischen Bild und Musik hierarchisch, wie zwischen einem Herren und seinem Sklaven. Normalerweise folgt die Musik passiv dem Bild – zum Beispiel im Mainstream-Kino: Die Musik wird hinzugefügt, wenn alles schon zu Ende gedacht ist. Sie funktioniert als Code, der die emotionale Reaktion der Zuschauer auf eine Szene steigern soll. Mein Ansatz ist genau umgekehrt: die Musik steht am Anfang, sie ist die Handlung, die man im Bild sieht – what you hear is what you see.”¹

Anri Sala (geb. 1974 in Tirana, Albanien) lebt und arbeitet in Berlin. Er studierte in Tirana, Paris und Tourcoing. Er wurde mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Vincent Award (2014). Einzelausstellungen waren u. a. in der GAMeC Galleria d’Arte Moderna e Contemporanea di Bergamo (2022), im Kunsthaus Bregenz (2021), im MUDAM Musée d’Art Moderne Grand-Duc Jean, Luxemburg (2019), im Castello di Rivoli, Turin (2019), im Tamayo Museum, Mexiko-Stadt (2017), im New Museum, New York (2016), im Haus der Kunst, München (2014), im Centre Georges Pompidou, Paris (2012) und in der Serpentine Gallery, London (2011) zu sehen. Sala nahm an zahlreichen Gruppenausstellungen und Biennalen teil wie etwa der 57. Venedig Biennale (2017), als Repräsentant Frankreichs an der 55. Venedig Biennale (2013), der dOCUMENTA (13), Kassel (2012), der 29. Biennale von São Paulo (2010), der 2. Moskau Biennale (2007) und der 4. Berlin Biennale (2006).

Unravel, 2013
Einkanal-Video, Farbe, Ton
20:45 Min.
Courtesy der Künstler and Esther Schipper, Berlin
© VG Bild-Kunst, Bonn, 2022
Still © Anri Sala
Fotos Ines Könitz
Text Cynthia Krell
Translation Amy Patton

¹ In: Donna Schons, „Ich untersuche Musik wie ein Fossil“, Interview mit Anri Sala, Monopol-Magazin, https://www.monopol-magazin.de/anri-sala-mudam?slide=1 (04.07.2022)

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9.22 Francis Alÿs
Children’s Game #12: Sillas musicales (Musical Chairs)

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9.22 Francis Alÿs
Children’s Game #12: Sillas musicales (Musical Chairs)
15.6.–14.8.22
Das Werk des belgischen Künstlers Francis Alÿs bewegt sich zwischen dem poetischen Geschichtenerzählen, der Absurdität des Alltags und dem kulturanthropologischen Beobachten seiner Umgebung. So entstehen seit über drei Jahrzehnten Gemälde, Zeichnungen, Skizzen, Künstlerbücher, Fotos, Objekte, Animationen und Videos, die oftmals in eigens konzipierten räumlichen Settings gehängt, in Vitrinen oder auf Tischen installiert werden. Mehr
Das Gehen im öffentlichen Raum ist seit Anfang der 1990er Jahre ein wesentlicher Bestandteil seiner Kunst. Dabei setzt er sich mit dem Alltag als Fremder (Europäer) in der Mega-City Mexiko-Stadt auseinander und greift deren historische und soziale Gegensätze auf. Seine Spaziergänge (Paseos) und die daraus entstandenen, teils sehr konzeptionellen Arbeiten, inszenierten Aktionen und Performances sowie fotografischen Serien machten ihn international bekannt. In seiner Doppelrolle als Beobachter und Teilnehmer, als Bewohner und Künstler, kartografierte Alÿs die Umgebung rund um sein Atelier in der Nähe des Zócalo über viele Jahre. Bei seinen Erkundungen dokumentierte er scheinbar beiläufig die politischen, sozialen und historischen Schichten seiner Wahlheimat und verwebte diese zu urbanen Fabeln.

Seit dem Jahr 1999 filmt Francis Alÿs Kinder auf der ganzen Welt beim Spielen. Seine Ausstellungstätigkeiten und Reisen führten ihn auf fast alle Kontinente dieser Erde, darunter waren sowohl friedliche als auch von Krisen geprägte Länder. Mittlerweile umfasst die Serie Children’s Games knapp über dreißig Videos, die chronologisch durchnummeriert werden. So schnipsen Kinder in Marokko flache Steine über das Wasser (#2), spielen Gummitwist in Frankreich (#4), lassen selbstgemachte Drachen in Afghanistan steigen (#10), spielen mit einem Stoffball in Nepal (#17), hüpfen jeweils über den Rücken eines anderen im Irak (#20), spielen im Kongo eine landestypische Mancala-Version (#26) oder veranstalten ein Rennen mit echten Schnecken in Belgien (#31). Die Kinder spielen selten allein, sondern meistens in Gruppen, teils gegeneinander oder auch auf kooperativer Ebene miteinander. Dabei handelt es sich einerseits um Spiele mit einem hohen Wiedererkennungswert, weil man sie aus der eigenen Kindheit kennt wie etwa Fangen, Seilspringen, Steine schnipsen, Drachen steigen lassen. Oder es sind andererseits eher landestypische Spiele, die sich geografisch konkret verorten lassen und sich daher nicht global verbreitet haben. Die Videos fokussieren sich auf die jungen Menschen und ihre Interaktionen im Spiel, oftmals als One-Take und aus der Perspektive der Kinder aufgenommen. Auf der Tonebene ist ausschließlich der O-Ton wahrnehmbar, der Künstler verzichtet dabei bewusst auf zusätzliche Erklärungen. Nur im Vorspann und Werktitel tauchen Hinweise auf den Ort der Aufnahme und das Spiel auf. Alle Filme changieren stark zwischen objektiver Dokumentation und teilnehmender Beobachtung, sie vermitteln aufgrund der Nähe zugleich die Leichtigkeit und Freude am Spiel.

Die Videoarbeit Children’s Game #12: Sillas musicales (Musical Chairs), Oaxaca, Mexiko, 2012, zeigt eine One-Take-Aufnahme aus der Vogelperspektive. Zu sehen ist wie sechs Kinder nacheinander fünf Klappstühle in einer Reihe aufstellen, um die Reise nach Jerusalem zu spielen. Mit dem Einsatz des Liedes „Tus Ojos Negros“ (dt.: Deine schwarzen Augen) der mexikanischen Band Super Lamas umkreisen die Jungen und Mädchen im Uhrzeigersinn die Stuhlreihe. Dann wird überraschend die Musik gestoppt und jedes Kind versucht sich möglichst schnell auf einen freien Stuhl zu setzen. So bleibt immer eine Person stehen, scheidet aus und nimmt einen Stuhl vom Spielfeld. Zuletzt gewinnt ein Mädchen gegen einen etwa gleichaltrigen Jungen. Von der Umgebung ist nicht viel zu erkennen, es dominiert ein trockener Erdboden. Nur zu Beginn und am Ende ist ein kurzer Hahnenschrei zu hören. Im Werktitel wird auf den Ort, Bundesstaat/Stadt Oaxaca, im Süden Mexikos hingewiesen.

Ähnlich wie ein Ethnologe betreibt Francis Alÿs bei Children’s Games eine Art künstlerische Feldforschung, ohne jedoch rein objektiv oder systematisch wissenschaftlich vorzugehen. Im Mittelpunkt seines subjektiven Interesses steht der Mensch als kulturelles und soziales Wesen, welches des Spielens willens spielt. Im Spiel wird über Ordnung und Chaos verhandelt, über den Konsens und den Dissens, zwischen Ich und dem Anderen, zwischen dem Einzelnen und den Vielen. Um ein soziales, kulturelles Wesen zu werden, muß jede*r diesen Lernprozess meistern. Der Künstler sieht auch eine Analogie zwischen seinem Werkansatz und zum Regelwerk eines Spiels: „Ich erkannte die Bedeutung, die Children’s Games als Inspiration hatte, nicht so sehr für die Drehbücher, sondern für den Mechanismus/die Struktur meiner Werke: die absurde Logik sehr klarer Regeln, die an sich nicht viel Sinn hatten. Ich bin nicht sehr gut darin, zu definieren, wonach ich suche, aber es ist glasklar, dass ich mich im Aus befinde. Kinderspiele sind so: In dem Moment, wo Du die Spielregeln nicht einhältst, werden sich Kinder bei Dir beschweren. Manchmal sind die Regeln nicht gut definiert, aber es gibt eine klare Grenze zwischen dem sich im oder außerhalb eines Spiels zu befinden.“¹

In seiner Kindheit war Francis Alÿs von dem Gemälde Die Kinderspiele, um 1560, von Pieter Bruegel der Ältere fasziniert, dass in seiner Opulenz und Detailgenauigkeit ebenfalls ein visuelles Archiv der Kinderspiele illustriert, welches es neu zu entdecken gilt. Ausgehend davon wird umso deutlicher, dass sich der Künstler auf das Universelle des kindlichen Spiels konzentriert und somit ein kulturelles Archiv der Kinderspiele anlegt – bevor diese als kulturelle Praxis verloren oder nicht mehr an die nächste Generation weitergegeben werden können. Das, was alle Menschen(-kinder) über alle Kulturen miteinander verbindet ist nicht nur das Spiel als eine Gattungseigenschaft des Menschen, oder das Spiel verstanden als Lebensexperiment und zentrales Medium des Lernens und Gestaltens, sondern auch die damit verbundene Zweckfreiheit des Spiels – so wie bei der Kunst.

Francis Alÿs (*1959 in Belgien) lebt und arbeitet in Mexiko-Stadt. Nach seinem Studium der Architektur widmet er sich der Kunstpraxis und drückt sich mittels Malerei, Zeichnung, Animationen und Videos aus. Seine Arbeiten thematisieren ethnologische und geopolitische Anliegen durch die Beobachtung und Auseinandersetzung mit dem Alltagsleben. Zuletzt war er an einer Reihe neuer Projekte im Irak beteiligt, die in der historischen Fiktion Sandlines: the Story of History, 2018–2020, gipfelten. Seine Children’s Games-Serie (seit 1999) ist eine Anthologie von spielenden Kindern auf der ganzen Welt. Für die Präsentation im Belgischen Pavillion im Rahmen der 59. Venedig Biennale wurden eine Reihe neuer Filme in der Demokratischen Republik Kongo, in Belgien, Kanada und Hongkong produziert und in Kombination mit Gemälden und Zeichnungen ausgestellt. Alÿs hat in renommierten Museen und Kunstinstitutionen weltweit ausgestellt und ist mit seinen Werken in bedeutenden Sammlungen vertreten.

Children’s Game #12: Sillas musicales (Musical Chairs), Oaxaca, Mexiko, 2012
Einkanal-Video, Farbe, Ton
5:05 Min.
In Kollaboration mit Elena Pardo und Félix Blume
Courtesy der Künstler und Galerie Peter Kilchmann, Zürich
Text Cynthia Krell
Übersetzung Amy Patton

¹ Originalzitat: „I realized the importance that children’s games had had as an inspiration not so much of the scripts but of the mechanics of my works: the absurd logic of very clear rules which did not have much sense in themselves. I am not very good at defining what it is that I am looking for, but it is crystal clear when it is that I am out of bounds. Children’s games are like that: the moment you step out of the rules of the game children will complain to you. Sometimes rules are not well defined, but there is a clear limit between being in or outside of a game.“ Cuauhtémoc Medina: A Collection of ‛Innumerable Little Allegories’ ‒ Francis Alÿs’s Children’s Games, in: Francis Alÿs, Children’s Games, (Ausst.-Kat. Amsterdam, Eye Filmmuseum), hg. von Marente Bloemheuvel und Jaap Guldemond, Amsterdam 2020, S. 14–15

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8.22 Yael Bartana
The Undertaker

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8.22 Yael Bartana
The Undertaker
15.4.–14.6.22
Mit provokativer Ambivalenz verbindet Yael Bartana Feminismus und kollektives Nationalbewusstsein in bildgewaltigen und narrativ fiktiven Konstellationen. Ihre Filme, Installationen, Fotografien und Performances untersuchen in ihrer Bildsprache die Konstruktion von Identität und Gedenkpolitik – insbesondere in Israel. Mehr
 Wichtig für ihre Arbeit sind die Bedeutungen von Begriffen wie etwa „Heimat“ oder „Zugehörigkeit“. Die Künstlerin geht diesen Bedeutungen anhand von Zeremonien, öffentlichen Ritualen und sozialen Praktiken nach, die dazu dienen sollen, die kollektive Identität in einem Nationalstaat zu stärken. Dabei greift sie auf die Synthese von Faktischem und Fiktivem zurück, dekonstruiert dabei sowohl die fundamentalisch orientierten israelischen, als auch die westlich geprägten Vorstellungen und Narrative. Yael Bartana entwickelt poetische Metaphern für die gegenseitige Bedingtheit kultureller Identitäten, die auch ihren persönlichen Dialog zwischen den Kulturen beschreiben.

Ein Friedhof dient im Video The Undertaker, 2019, als zentraler Schauplatz für eine militärische Beerdigungszeremonie, wobei keine Soldaten zu Grabe getragen werden. Anstelle von menschlichen Körpern entledigt sich eine gemischte Armee ihrer Feuerwaffen und beerdigt diese würdevoll. Die Soldat*innen tragen alle tunikaähnliche Kleider in einer Variation von Beigetönen, sodass sie einen uniform schreitenden Organismus bilden. In verschiedenen Sequenzen wird eine Prozession durch die nordamerikanische Stadt Philadelphia gezeigt, die als öffentliche Performance mit dem Titel Bury Our Weapons, Not Our Bodies! im Jahr 2019 durchgeführt wurde. Philadelphia, der Geburtsort der amerikanischen Demokratie, spielt eine herausragende Rolle, wenn sich diese Gruppe von Tänzer*innen, Kriegsveteran*innen und Aktivist*innen aus einer Vielzahl lokaler Gemeinschaften durch die historische Kulisse der Stadt bewegt. Angeführt wird dieser Umzug von einer charismatischen, androgynen, in einem schwarzen Hosenanzug gekleideten Anführerin mit offenen weißen Haaren. Die Künstlerin setzt hier bewusst eine weibliche Protagonistin als Gegenfigur zum stereotypen politischen Leader ein. So wie auch in ihren jüngsten Videoarbeiten und Performances What if Women Ruled the World?, 2017, und Two Minutes to Midnight, 2021, verbindet sie fiktive Schauplätze mit Personen aus dem wirklichen Leben zu einem komplexen Handlungssetting, um dadurch feministische Alternativen zu überkommenen Konzepten von Patriarchat und Macht zu erproben.

Das Spiel mit Gegensätzen und Dichotomien wird durch das Militärische und das Tänzerische fortgesetzt: An verschiedenen Stellen im Video ist eine Gruppe von Tänzerinnen zu beobachten, die gleichzeitig einfache Bewegungsabfolgen und Gesten ausführen. Sie stammen von der israelischen Choreographin, Tanzpädagogin und Künstlerin Noa Eshkol (1924–2007) und zitieren Fragmente aus einer Aufführung von 1953 zum Gedenken an den Holocaust. Im Gegensatz zur Gleichmacherei des Subjekts in der Armee tritt hier das Individuum aus der Gleichförmigkeit  der Bewegungen heraus und behält dennoch seine persönliche Einzigartigkeit. Insgesamt überwiegt in der Videoarbeit ein würdevoller Charakter, der sich an den ernsthaften Gesichtern und den stolz schreitenden Körpern in der uniformierten Gruppe ablesen lässt. Verstärkt wird dieser Eindruck durch die gewählten Schauplätze wie Friedhof oder Treppe vor Tempelarchitektur, die auf das Existenzielle des Menschen (Leben und Tod) hinweisen.

Die allegorischen Inszenierungen erhalten durch Schnittrhythmus und Soundregie geradezu einen monumentalen Charakter. Denn neben den bildgewaltigen Aufnahmen, überlagern sich auf der Tonebene, je nach Sequenz, militärisch komponierte Musikelemente mit den Echtzeit-O-Tönen. Doch zu keiner Zeit wird gesprochen oder gesungen; die menschliche Sprache scheint in dieser Welt nicht existent zu sein. Auch die getanzten Stücke werden größtenteils nur von Naturgeräuschen begleitet. So gelingt es Yael Bartana durch diese formalen Stilelemente auf eindrückliche Weise eine nicht enden wollende Spannung beim Betrachtenden aufrecht zu erhalten und durch diese Reduktion das Unsagbare zu verleiblichen. Das, was sich in die Körper eingeschrieben hat, wie etwa kollektive Erinnerungen, Erfahrungen oder Traumata, werden nicht ausgesprochen, bleiben unter Spannung.

Yael Bartana (*1970 in Kfar Yehezkel, Israel, lebt und arbeitet in Amsterdam/Berlin) studierte an der Bezalel Academy of Arts and Design in Jerusalem und an der School of Visual Arts in New York. Zuletzt hatte sie international zahlreiche Einzelausstellungen, unter anderen im Jüdischen Museum, Berlin (2021); in der Fondazione Modena Arti Visive, Modena (2019/2020); im Philadelphia Museum of Art (2018); im Stedelijk Museum, Amsterdam (2015); in der Secession, Wien (2012); im Tel Aviv Museum of Art (2012); im Moderna Museet, Malmö (2010) und im MoMA PS1, NY (2008). Mit ihren Werken nahm sie an verschiedenen Biennalen und Gruppenausstellungen teil, darunter an der Biennale von São Paulo (2014, 2010, 2006); Berlin Biennale (2012); documenta 12 (2007); Istanbul Biennale (2005) und an der Manifesta 4 (2002) sowie im KINDL – Centre for Contemporary Art, Berlin (2020); im Kunstpalast Düsseldorf (2020); im Stedelijk Museum Schiedam (2019) und im Museum on the Seam, Jerusalem (2019). Außerdem sind ihre Arbeiten in zahlreichen musealen Sammlungen vertreten, darunter dem Museum of Modern Art, New York; der Tate Modern, London und dem Centre Pompidou, Paris.

The Undertaker, 2019
Einkanal-Video und Soundinstallation, Farbe, Ton
13:00 Min.
Courtesy die Künstlerin
Text Cynthia Krell
Übersetzung Amy Paton

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7.22 Tony Cokes
Evil.81: Is This Amrkkka?: DJ Joe Nice Speaks

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7.22 Tony Cokes
Evil.81: Is This Amrkkka?: DJ Joe Nice Speaks
15.2.–14.4.22
Seit den 1990er Jahren arbeitet der nordamerikanische Künstler Tony Cokes mit dem Videoessay als Medium. Dabei untersucht er Diskurse über den strukturellen Rassismus gegen schwarze Menschen, Gesellschaftskritik, Kapitalismus und Krieg und betrachtet diese sowohl in ihrer historischen als auch gegenwärtigen Dimension. Mehr
Cokes’ Videos bestehen vor allem aus Texten, die über ein Bild oder einen monochromen Hintergrund laufen und von Popmusik unterlegt werden. Der Künstler hat dafür ein eigenes Archiv aufgebaut, welches Bilder, Filme, Musikstücke und Texte aus den Massenmedien, dem Internet, der Popkultur, Politik und Philosophie versammelt. Grundlegend für seinen künstlerischen Ansatz ist die Entkopplung des Wortes vom Bild. Hierbei verfolgt Tony Cokes eine postkonzeptuelle Strategie im Umgang mit dem Zeichensystem Sprache und Bild, die ihren Ursprung in der Konzeptkunst der 1960er und 1970er Jahre hat. Diese Praxis lässt sich auf seine richtungsweisende Arbeit Black Celebration, 1988, zurückführen. Gezeigt werden dort Wochenschau-Ausschnitte von Aufständen der schwarzen Bevölkerung in Boston, Detroit, Newark und Watts im Jahr 1965, begleitet von Songs der kanadischen Industrial-Band Skinny Puppy. Die hier eingefügten Texte stammen unter anderem von Morrissey, Martin L. Gore, Barbara Kruger oder der Situationistischen Internationale. Durch seinen Prozess des Samplings und der Rekontextualisierung verweist er darauf, dass eine Dekonstruktion der Medien für jede Art von emanzipatorischer Politik und Empowerment elementar ist, um stereotypen Repräsentationen eine vielstimmige Lesart entgegenzusetzen.

Das Video Evil.81: Is This Amrkkka?: DJ Joe Nice Speaks, 2021, ist Teil seiner Evil-Serie, seit 2003 fortlaufend, die sich den widersprüchlichen Vorstellungen des Bösen in der Vergangenheit und Gegenwart widmet. Der hier zitierte Text, fragmentiert in einzelne Sätze und Fragen auf rotem und blauem Hintergrund, basiert auf einer Abschrift eines Video-Interviews mit dem afroamerikanischen DJ und „Botschafter“ des UK-Dubstep, Joe Nice. Aufgenommen wurde das Video anlässlich des tragischen Tods von Andrew Brown Jr., der am 21. April 2021 von weißen Polizisten in der Kleinstadt Elizabeth City, Northcarolina, erschossen wurde. In diesem Monolog verurteilt Joe Nice die fatalen Versäumnisse der Polizeiarbeit in schwarzen Gemeinden, stellt Fragen über offensichtliche Ungereimtheiten im Fall von Andrew Brown Jr., beschuldigt die Polizei und Justiz Beweismittel zu unterschlagen und somit den Fall zu verschleiern. Weiterhin klagt er über den historisch gewachsenen, strukturellen Rassismus gegen schwarze Menschen, wendet sich mehrmals an den amerikanischen Präsidenten Joe Biden und weitere liberale Politiker*innen, die sich in keinerlei Weise um die Belange und Interessen der schwarzen Bürger*innen kümmern würden. Sprachlich ist der Text von Wort-Wiederholungen und Fragen geprägt wie etwa „We demand justice. We demand justice now, we demand the release of these tapes of Andrew Brown Jr.“ oder „What are you doing for the people? More specifically, what are you doing for Black people?“. Daraus ergibt sich ein rhythmischer So(n)g der Beschuldigungen und Forderungen nach Aufklärung und Gerechtigkeit. 

Den Text kombiniert Tony Cokes mit Musikstücken aus über zehn verschiedenen Songs, teilweise handelt es sich um politisch motivierte Protestlieder im Rap-, Reggae- oder Dub-Stil. Zu hören sind Titel wie zum Beispiel „Can’t Trust It“ von Public Enemy, „Babylon Makes The Rules“ von Steel Pulse oder „Wicked“ von Ice Cube. Das Zusammenspiel der Lieder folgt einer festgelegten Dramaturgie des Künstlers und eröffnet dadurch ein popkulturelles wie politisches Narrativ (der afroamerikanischen Community), welches aufgrund seiner aktuellen Bezüge aus der Gegenwart heraus zu entschlüsseln ist. Durch die Verwendung von gegensätzlichen Text- und Tonelementen aus unterschiedlichen medialen Kontexten, schafft Tony Cokes in seinen Videoessays verdichtete Zeitkapseln und neue Narrative, die aufgrund ihres appellativen Charakters umso eindringlicher auf die Betrachter*innen einwirken. Denn im Zentrum dieser und den meisten Videoarbeiten aus der Evil-Serie umkreist der Künstler, die bis in die Gegenwart reichende Geschichte der Unsichtbarkeit (‚non-visibility‘) der Schwarzen in den USA sowie deren fehlende Repräsentation.

Das Bindeglied und die Rolle des Interpretators übernehmen die Betrachter*innen, da erst ihre sinnlich-räumliche Wahrnehmung ihnen Zeitlichkeit und körperliche Präsenz – insbesondere im öffentlichen Raum – verleiht. Doch mit der Gleichzeitigkeit und der Überlagerung von Text und Musik werden die Betrachter*innen auch beim Akt des Lesens und Hörens sowie dem Versuch des Verstehens permanent und bewusst überfordert. Es eröffnet sich dadurch zugleich eine Erfahrung der selektiven Wahrnehmung und vielstimmigen Interpretation. Dieser mehrdimensionale und ambivalente Ansatz, der in allen seinen Werken zu Tage tritt, verwendet Tony Cokes um das Exemplarische deutlich zu machen. So wie die Worte und Musik im Kopf nachhallen, umso mehr drängt sich die Forderung in den Vordergrund das eigene Denken und Handeln sowie die Fortschreibung hegemonialer Ordnungen und Geschichtsschreibung kritisch zu hinterfragen. 

Tony Cokes (*1956 in Richmond, Virginia, lebt und arbeitet in Providence, Rhode Island, US) ist Professor und Director of Undergraduate Studies im Department of Modern Culture and Media an der Brown University. Zuletzt hatte er international zahlreiche Einzelausstellungen, unter anderen in der Memorial Art Gallery, University of Rochester, New York (2021); im MACRO Contemporary Art Museum, Rom (2021); im MACBA Museu d’Art Contemporani de Barcelona (2020); im ARGOS centre für audiovisual arts, Brüssel (2020) und im BAK – basis voor actuele kunst, Utrecht (2020). Mit seinen Werken nahm er an verschiedenen Gruppenausstellungen und Screenings teil, darunter in der Kunsthalle Wien (2021); in La Casa Encendida, Madrid (2021); im Rahmen der 34. São Paulo Biennale (2021); an der School of the Art Institute of Chicago (2021) und in The Kitchen, New York (2020). Tony Cokes hat auch an vielen Medienkunst-Festivals teilgenommen, etwa am International Film Festival Rotterdam, an Rencontres Internationales Paris/Berlin/Madrid, an Freewaves Los Angeles sowie an den Internationalen Kurzfilmtagen Oberhausen. Das Haus der Kunst in Zusammenarbeit mit dem Kunstverein München widmet Tony Cokes die erste institutionelle Einzelausstellung in Deutschland (3.6.–23.10.2022).

Evil.81: Is This Amrkkka?: DJ Joe Nice Speaks, 2021
Video, Farbe, Ton
19:00 Min.
Text Cynthia Krell
Übersetzung Amy Patton
Foto Ines Könitz

In Auftrag gegeben von MACRO Rom:
„This Isn’t Theory. This Is History“
Text Joe Nice
Youtube 4/29/21
„Andrew Brown Protester BLASTS Biden When in the Hell Are You Helping Black People“
Musik MRVN G, ISHN SND, MSP, PE, LKJ, KRPTC MNDS, GTH TRD, CNSLDTDx2, ICEQB, STL PLZ
Editor Stephen Croker
Konzept & Design Tony Cokes

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6.21 Dor Guez
The Sick Man of Europe: The Painter

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6.21 Dor Guez
The Sick Man of Europe: The Painter
15.12.–14.2.22
In seiner künstlerischen Arbeit thematisiert Dor Guez wiederkehrend das Spannungsfeld von offizieller Geschichtsschreibung und persönlicher Biografie/Erinnerung, von kollektivem und subjektivem (Bild-)Gedächtnis und Archiv. Innerhalb von Dor Guez’ Werkserien entsteht auf der inhaltlichen und formalen Ebene ein komplexes Bezugssystem, so auch in der mehrteiligen Arbeit The Sick Man of Europe. Mehr
Der Künstler verweist auf einen Ausdruck des 19. Jahrhunderts, der für den Zusammenbruch des osmanischen Reichs verwendet wurde. Er beleuchtet die Militärgeschichte anhand individueller Biografien von Kulturschaffenden (Architekt, Komponist, Maler), die als Soldaten in verschiedenen Kriegen und Konflikten im Nahen Osten involviert waren. The Sick Man of Europe: The Painter, 2015, wird gewöhnlicherweise als raumgreifende Gesamtinstallation präsentiert: neben einer Videoarbeit und Reproduktionen von Gemälden gehören zahlreiche im Raum verteilte Tischvitrinen dazu, die mit scheinbar persönlichen, gefundenen oder gesammelten Alltagsgegenständen, Objekten, Fotos, Zeitschriften, Büchern sowie teilweise mit Zeichnungen bestückt sind. Als (symbolische) Zeitzeugen tauchen diese auch in der Videoarbeit auf. Die gezeigten Gegenstände, Fundstücke und Artefakte vervollständigen das Porträt und die Erzählung der zentralen Person (Maler).

Das Video The Painter, 2015, verknüpft dokumentarische Ansätze mit der Sichtbarmachung persönlicher Geschichte. Die Hauptfigur, der Maler D. Guez, trägt denselben Nachnamen und Initial des Vornamens wie der Künstler selbst – diese Spur impliziert ungewollt eine autobiografische Lesart. Im Film spricht der Maler episodenhaft aus seinem Leben. Gerahmt wird sein Lebensbericht zu Beginn und zum Schluß von einer tunesischen Tierfabel.¹ Wir erfahren, dass er aus einer Familie tunesischer Juden stammt, die nach Israel auswanderte. Aufgewachsen in einem religiösen Haushalt, sprach D. Guez draußen Hebräisch und zu Hause Arabisch. Im Anschluß berichtet der Maler sehr ausführlich von seinem autodidaktischen Werdegang zur Malerei, bevor er Soldat wurde. Zahlreiche Schnappschüsse aus der Zeit beim Militär illustrieren die vorgelesenen Briefe an seine Familie. Es folgt chronologisch der Einsatz im Jom-Kippur-Krieg² im Oktober 1973, der brachial mit einem Angriff in Syrien endet und ihn dabei traumatisiert – Auszüge aus der psychiatrischen Akte von D. Guez werden folglich zitiert. Zuletzt erfahren wir etwas über die Beziehung zu seiner Ehefrau, die aus einer christlich-palästinensischen Familie stammt. Der Film endet mit der Fortsetzung der Tierfabel.

Der Erzählfluss des Protagonisten wird durch visuelles Material bestehend aus seinen Zeichnungen und Malereien, Fotografien aus der Militärzeit, Abbildungen aus Büchern oder Dokumenten veranschaulicht. So werden auch die Malereien als Fragment oder als Close-up aufgenommen, sodass die aufgerissenen Farbschichten detailreich auffallen; hier kann eine Analogie zu den Spuren und Verletzungen der Geschichte gezogen werden. Die Motive sind inspiriert von der direkten Lebenswelt als auch stilistisch von der westlichen Kunstgeschichte geprägt und zeigen figurativ angedeutete (Dorf-)Landschaften und Stillleben. Mehrmals setzt Dor Guez den Prozess des Scannens formal ein. Erst durch das künstliche Gegenlicht des Scanners wird die Zeichnung, die Malerei und das Dokument für uns sichtbar gemacht – der Künstler agiert sinnbildlich wie dieser technische Vorgang, legt die ungeschriebene und persönlich erlebte Geschichte offen, die sich hinter der Oberfläche der offiziellen Geschichtsschreibung verbirgt. 

Dor Guez’ Konstruktion des Sick Man-Narrativs spiegelt Spannungen zwischen östlich-religiösen und westlich-säkularen Kulturen in Grenzregionen wie Israel („Villa im Dschungel“) und der Türkei („das Tor zu Asien“) wider. Jedes Video und Einzelobjekt aus der Gesamtinstallation The Sick Man of Europe zeigt, wie oft die geschriebene Geschichte mit den Erzählungen unterschiedlicher Personen kollidiert. Das Projekt wandelt die Lesart der Geschichte des Nahen Ostens metaphorisch von einer stark vereinfachten Metaerzählung zu einem nuancierten, vielfältigen Chor persönlicher Geschichten in einer Region, in der der Militärdienst für alle wehrfähigen Männer, und in Israel auch für die Frauen, obligatorisch ist.

Das Video gleicht einem visuellen Essay, welches formal einem stringenten Skript folgt. Mit seinem dokumentarisch-biografischen Ansatz fokussiert Dor Guez vor allem auf Fragen der Repräsentation sowie auf das Verhältnis von Geschichte und Gedächtnis durch verschiedene materielle Zugriffe auf Vergangenheit. Damit spannt er einen Bogen zwischen der Biografie als Erzählung vom eigenen Leben und der Geschichte als kollektivem Zugang vieler subjektiv erlebter Vergangenheiten, die in ein Verhältnis mit narrativen Prozessen gesetzt werden. Durch das Sammeln und Archivieren von Objekten, die durch die persönliche Auswahl und eine museale, archivarische Präsentation an Wert gewinnen, wird eine subjektive, zum Teil auch biografische Erzählweise beschrieben, welche die kollektive Geschichtsschreibung spiegelt und verdichtet. Dor Guez hat sich einen Blick von außen angeeignet, der es ermöglicht, eigene Erfahrungen einer Prüfung zu unterziehen und diese Untersuchungen künstlerisch zu verarbeiten.

Dor Guez (*1980, lebt in Jaffa) ist Künstler und Dozent. Er wurde in Jerusalem als Sohn einer palästinensischen Familie aus Lydda mütterlicherseits und einer Familie jüdischer Einwanderer aus Nordafrika väterlicherseits geboren. Seine Fotografien, Videoinstallationen, Essays und Lecture-Performances erforschen die Beziehung zwischen Kunst, Erzählung, Trauma, Erinnerung und Vertreibung.

Der Künstler stellt in zahlreichen Werkkomplexen die persönliche Erfahrungen der offiziellen Geschichtsschreibung über die Vergangenheit gegenüber. Damit thematisiert er immer wider aufs neue Fragen zur Rolle der Gegenwartskunst beim Erzählen ungeschriebener Geschichten und den damit verbundenen Blindspots, der Rekontextualisierung von visuellen und schriftlichen Dokumenten und spürt somit auch das Potential einer vielstimmigen und spekulativen Narration auf. In den letzten 20 Jahren konzentrierte sich seine künstlerische Forschung und Arbeit auf Archivmaterialien und fotografische Praktiken des Nahen Ostens und Nordafrikas sowie auf die Kartierung von Gewaltspuren in der Landschaft. 2009 gründete Dor Guez das Christian Palestinian Archive (CPA), das erste Archiv, das sich der christlich-palästinensischen Minderheit im Mittleren Osten widmet. Im Zentrum seiner künstlerischen Herangehensweise, die auf der Verwendung komplexer Bezugssysteme fußt, steht das Bewahren von Bildern.

Dor Guez promovierte 2014 an der Universität Tel Aviv und unterrichtet seit 2009 an der Bezalel-Akademie für Kunst und Design. Er ist Leiter des Masterprogramms für Bildende Kunst an der Bezalel-Akademie und Kodirektor von SeaPort: Mediterranean Curatorial Residency. Seine Werke wurden in über 40 Einzelausstellungen weltweit gezeigt, darunter: MAMBO Museum of Modern Art of Bogotá (März 2022); Galerie carlier | gebauer, Madrid (April 2022); Princeton University Art Museum, New Jersey (Mai 2022); Goodman Gallery, Kapstadt und New York (2021); Kunst im Kreuzgang, Bielefeld (2021); Les Rencontres d’Arles, Paris (2020); Galerie carlier | gebauer, Berlin (2020); Center for Contemporary Art FUTURA, Prag (2020); American Colony Archive, Jerusalem (2019). Außerdem Dor Guez hat auch an zahlreichen Gruppenausstellungen teilgenommen: Jewish Museum, New York (2021); Israel Museum, Jerusalem (2021); Taubman Museum of Art; Roanoke, USA (2021); Hugh Lane Gallery, Dublin (2021); University of Northern Iowa Gallery of Art, USA (2020); Susquehanna Art Museum, Harrisburg, USA (2019). 

The Sick Man of Europe: The Painter, 2015
1-Kanal Video, Farbe, Ton
20:00 Min
Text Cynthia Krell
Übersetzung Amy Patton
Foto Ines Könitz

¹Diese handelt von einem Käfer-Weibchen, das einen Mäuserich heiratet. Der Käfer fällt in eine Grube, der Mäuserich hält seinen Schwanz hin, damit sie gerettet werden kann. Dabei fällt der Schwanz ab. Nach einer Party mit allen Mäusen aus dem Dorf, werden allen Mäusen der Schwanz entfernt, um damit (äußerlich) auf die Gleichheit aller Lebewesen hinzuweisen.
²Ägypten und Syrien griffen Israel am Feiertag Jom Kippur am 06. Oktober 1973 an und eroberten die vorher von Israel besetzten Gebiete zurück. Die UN-Resolution 338 beendete den Krieg nach Unterzeichnung durch beide Kriegsparteien am 26. Oktober 1973.

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5.21 Tobias Zielony
Hurd’s Bank

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5.21 Tobias Zielony
Hurd’s Bank
15.10.–14.12.21
Der Blick durch ein Teleskop funktioniert als Verlängerung und symbolische Prothese für das menschliche Auge. Es bringt etwas Entferntes für das Auge nah genug heran, um das Objekt überhaupt als Ganzes oder dessen Details erkennen zu können. Mehr
Dabei zeigt der runde Ausschnitt immer nur einen Teil des Ganzen und verschwimmt zunehmend an den schwarzen Rändern. Eine solch statische Aufnahme durch ein Teleskop setzt Tobias Zielony als filmisches Gestaltungsmittel bei der Videoarbeit Hurd’s Bank (2019) ein, die als Auftragsarbeit des Kunstraums Blitz in Valletta auf Malta entstanden ist. Ausgestattet mit einer Kamera und einem aufgesetzten Teleskop filmte der Künstler den Schiffsverkehr an der Hurd’s Bank, eine Untiefe außerhalb der 12-Meilen Zone, die unter anderem als Umschlagplatz für den Ölschmuggel aus Libyen (und anderen Häfen bzw. Staaten) bekannt ist – eine Art maritimes Darknet. Es tauchen schemenhafte Umrisse von vorbeifahrenden Motorbooten und Containerschiffen, unzählige Lichter und Leuchtpunkte, Schiffsarbeiter bei der Pause auf. Alles wird von der Dunkelheit verschluckt, bleibt aufgrund der Entfernung und Unschärfe vage. So verschwimmen die Bewegtbilder vor dem Auge des Betrachters und ergeben ein maritimes Logbuch ohne eindeutige Referenzpunkte über die geografische Lage oder die Schiffe selbst offen zu legen.

Ein fiktionaler Sprecher berichtet fragmentarisch von seinen Beobachtungen und Erfahrungen während seines Aufenthalts auf Malta. Der eigentliche Erzählstrang rekonstruiert den bis heute nicht gänzlich aufgeklärten Mord an der Journalistin Daphne Caruana Galizia (2017), sucht nach Erklärungen und spekuliert über die undurchsichtigen Zusammenhänge von politischer Korruption und Mafia, aber auch über die politische Rolle Maltas an der Außengrenze der EU. In seinem Monolog hinterfragt die Hauptfigur „Wer wollte ihren Tod? Und warum? Die Menschen, die versuchen diese Fragen zu lösen, leben in ständiger Gefahr. Etwas Zähflüssiges und Undurchdringliches liegt vor meinen Augen. Ich hoffe, dass diese Trübung eher etwas verbirgt, anstatt die Antwort selbst zu sein.“ Denn die Journalistin hatte zuletzt Korruptionsvorwürfe gegen Mitglieder der Regierung erhoben sowie den lukrativen Handel mit maltesischen Pässen aufgedeckt. Nachzulesen waren ihre Beiträge auf ihrem Blog und sie hatte sich damit zahlreiche Feinde gemacht – insbesondere unter der politischen Elite des Inselstaats. Auch wenn es mittlerweile eine umfangreiche Untersuchung zur Ermordung gab und Teil-Verantwortlichkeiten für den Mord beim maltesischen Staat gesehen werden, bleibt am Ende die Frage nach den realpolitischen Hintergründen.

An mehreren Stellen des Monologs wird die Dialektik des Sichtbaren und Unsichtbaren aufgegriffen: „Ich frage mich, ob das bloße Anschauen eines Schiffes schon gefährlich sein könnte? Das Teleskop verwischt die Grenzen zwischen Distanz und Nähe, Risiko und Sicherheit, Bewegung und Stille.“ oder weiter heißt es: „Wenn ich das Teleskop an die Kamera anschließe und auf den Hafen richte, sehe ich zunächst nichts. Das Bildrauschen der Kamera vermischt sich mit dem regungslosen Wasser, magenta und schwarz. Die Lichtpunkte machen keinen Sinn. Was schaue ich mir eigentlich gerade an?“. Damit bringt es der Künstler selbst auf dem Punkt, indem er den Akt des Beobachtens und das Teleskop als Bildgenerierendes Medium verwendet, um im Sinne einer medialen Metareflexion, ein Resonanzbild für das Opake und das-unter-der-Oberfläche-liegende abseits des legalen Raumes zu kreieren. Wie bei seinen Fotografien und anderen Videoarbeiten bewegt sich der Künstler zwischen Dokumentation und Fiktion, Beobachtung und Behauptung, Inszenierung und Dekonstruktion. Geradezu unspektakulär und in der Schwebe haltend verhandelt Zielony sowohl die persönlichen als auch die politischen Aspekte eines Auftragsmordes – spekuliert über die dunklen Zwischenräume, welche das Land, die Geschichte und Menschen möglicherweise prägen und kollektiv erinnern werden.

Seit vielen Jahren richtet Tobias Zielony seinen Blick auf jugendliche Subkulturen und Randgruppen der Gesellschaft, die er zumeist in ihrem sozialen Umfeld ablichtet. Seine Fotoserien haben oft einen konkreten Ort als Ausgangspunkt. Von dort aus begibt sich der Künstler auf eine visuelle Spurensuche, nähert sich behutsam den Menschen, deren Alltagspraktiken und Codes, erforscht deren Habitus und Status. Indem Zielony auf unterschiedliche Mittel der Bildreportage zurückgreift, sind seine Fotografien immer von einer besonderen Intimität und direkter Nähe geprägt. Über seine Protagonist*innen als Motive beschäftigt sich der Künstler mit politischen und sozialen Fragestellungen in einer globalisierten Gesellschaft, aber reflektiert immer auch das Medium Bild als ein Phänomen unserer Zeit. Seit 2006 entstehen vermehrt Videos und Stop-Motion-Filme, die zu Beginn motivisch oftmals noch eng mit den Fotoserien verknüpft sind. Die späteren, filmischen Arbeiten gewinnen an künstlerischer Eigenständigkeit, umkreisen und involvieren teilweise gesellschaftlich marginalisierte Communities, und loten dabei die Grenzen zwischen Dokumentation und Fiktion aus, um über die entstehenden Zwischenräume alternative Narrative zu erschaffen.

Tobias Zielony (*1973 in Wuppertal) studierte von 1998 bis 2001 Dokumentarfotografie an der University of Wales. 2001 schloss er dort sein Studium ab und wurde Meisterschüler bei Timm Rautert an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig. Zielony hatte bereits zahlreiche Einzelausstellungen zuletzt im Museum Folkwang Essen (2021), im Kunstraum Blitz, Valletta/Malta (2019), im Von der Heydt-Museum, Wuppertal (2017) und in der Berlinischen Galerie (2013). Außerdem war er an verschiedenen Gruppenausstellungen und Biennalen beteiligt darunter an der 11. Seoul Mediacity Biennale (2021), in der Kunsthalle Exnergasse, Wien (2020), in der Julia Stoschek Collection, Düsseldorf (2020), im Fotomuseum Winterthur (2019), an der RIBOCA1 Riga-Biennale (2018) und an der 56. Venedig Biennale, Deutscher Pavillon (2015).

Hurd’s Bank, 2019
1-Kanal HD Video, Farbe, Ton
14:55 Min.
Courtesy der Künstler und KOW, Berlin
Text Cynthia Krell
Übersetzung Amy Patton
Foto Ines Könitz

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4.21 Laure Prouvost
Lick In The Past

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4.21 Laure Prouvost
Lick In The Past
15.7.–14.10.21
„When we move by night at the speed of desire
With you at the wheel my limit goes higher
Just turn me on, you turn me on
You are my petrol, my drive, my dream, my exhaust.“
Lyric aus dem Song Vroom
Text
Laure Prouvost

In dem Video Lick In The Past (2016), das auf einem verlassenen Parkplatz in der Innenstadt von Los Angeles gedreht wurde, treffen sich hippe Teenager*innen in der Stadt, improvisieren Texte und handeln nach einem geheimen Drehbuch der Künstlerin.
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Sie amüsieren sich, sprechen über Banales und Surreales, lecken an ihren Handys, posen, berühren sich und andere Körper wie zufällig, fahren mit dem Auto durch LA. Die Laiendarsteller*innen bereichern ihre Dialoge mit Slang und eigenen Ausdrücken, während die Erzählerin, Laure Prouvost selbst, Alliterationen, Lautmalereien und Wortspiele flüstert. Diesem urbanen Szenario stellt die Künstlerin Aufnahmen aus ihrem Video We Will Go Far (2015) von Jugendlichen aus dem ländlichen Frankreich gegenüber, die hier mit dem Motorrad aus ihrem Alltag zu entfliehen versuchen. Als Vehikel der Flucht dient der Clique in LA hingegen ein weißes Auto, womit sie an Autobahnen, Häuserfassaden, Parkhäusern, Wüsten und Strandpromenaden dahingleiten – somit wird LA zugleich als Sehnsuchtsort und Schauplatz zahlreicher Kinofilme lebendig. Auch blitzen Edward Ruchas Schwarz-Weiß-Fotografien von LA aus den 1960er und 1970er Jahren vor dem inneren Auge auf, die einem kartografischen und konzeptuellen Ansatz folgen, aber gerade durch ihre Prägnanz als Archetypen der amerikanischen Kultur und Landschaft immer noch präsent sind.

Konterkariert werden diese Stadtlandschaften, gerade zu Beginn der Videoarbeit, durch teils idyllische, teils widerspenstige Tier- und Naturbilder. Ein Beispiel dafür sind weidende Kühe, nach Luft japsende Fische oder ein als Tintenfisch fungierender Pinsel. In einer kurzen Bildsequenz taucht die Künstlerin selbst auf, wie sie scheinbar einen toten Vogel verspeist – keine grausame Fantasie, sondern dahinter verbirgt sich eine kunsthistorische Referenz an das Gemälde Jeune fille mangeant un oiseau (Le Plaisir) (1927) von René Magritte (1898-1967). Laure Prouvost bedient sich aus einem großen Repertoire an visuellen Referenzen und wiederkehrenden Motiven aus ihrem Werkkomplex wie etwa Tieren (Fisch, Tintenfisch, Kuh, Vogel), Flüssigkeiten (Wasser, Honig, Milch, Silikon, Öl) Konsum-Objekten (Auto, Motorrad, Handy) und Körperteilen (weibliche Brust, Hände). Durch eine virtuose Montage von signifikanten Einzelbildern erschafft sie sowohl surreale Bilder als auch albern überzogene Metaphern, provoziert aber explizit erotische Assoziationen und Klischees, die trotzdem ganz unmittelbar auf Rezipient*innen wirken und ein eigenes Kopfkino auslösen können. Die bewusst erzeugte visuelle Überreizung und dem künstlerischen Prinzip des Gesamtkunstwerks folgend, sind ihre filmischen Arbeiten in ihren Ausstellungen oftmals in aufwendig, bis ins letzte Detail inszenierte Raum-Installationen eingebettet. Charakteristisch dafür sind verwahrlost wirkende Settings, die etwas Dystopisches und Toxisches ausstrahlen, auf dem Boden zerstreute, zerstörte (Konsum-)Objekte, die von einer epoxidartigen, hart werdenden Flüssigkeit – wie eine zweite Haut – überzogen werden, räumlich ergänzt werden diese durch gefundene oder eigens angefertigte Möbel, Plakate, Schilder, Tapeten, Skulpturen oder Zeichnungen. Dadurch entsteht eine sinnlich verdichtete Atmosphäre zwischen Fantasie und Begierde, Realität und Déjà-vu.

Der von Laure Prouvost gestaltete Film ist und bleibt für Rezipient*innen ambivalent: idyllisch und widerspenstig, naiv und raffiniert, obszön und sinnlich, einzigartig und universell. Das Roadmovie der Teenager*innen ist der Versuch einer Flucht aus dem banalen Alltag, die meistens immer wieder zu Hause endet. Ein endloser Aus- und Aufbruch aus der eigenen Haut, der eigenen Geschichte, dem eigenen Leben. Die idyllische Landschaft wird durch Motorradabgase verpestet, LA durch seine Betonkanäle und Ölquellen entromantisiert. So entsteht nicht zuletzt ein bewusst orchestrierter Schwindel der uns dazu verführt in eigene Assoziationen, Gedankenwelten oder Erinnerungen abzutauchen, dem Alltag für einen Augenblick selbst zu entfliehen, analog zu den gesprochenen Worten zu Beginn der Videoarbeit: „We could go far, far away… (Humming) Follow me we could go far, far away. Come this way! (Singing) We could go far, far …“

Die mit dem Turner-Preis ausgezeichnete Künstlerin Laure Prouvost ist bekannt für ihre üppigen, immersiven Filme und Mixed-Media-Installationen. Da sie daran interessiert ist, lineare Erzählungen und erwartete Assoziationen zwischen Wörtern, Bildern und Bedeutungen zu verwirren, hat sie gesagt, dass in ihren Werken „Fiktion und Realität sich wirklich vermischen“. Verführerisch und erschütternd zugleich, bestehen ihre Filme aus einer reichen, fast taktilen Auswahl an Bildern, Tönen, gesprochenen und geschriebenen Sätzen, die in schnellen, stark rhythmisierten Schnitten auftauchen und wieder verschwinden. Diese werden oft in Installationen gezeigt, die mit einer schwindelerregenden Auswahl an gefundenen Objekten, Skulpturen, Gemälden, Zeichnungen, Möbeln, Schildern und architektonischen Assemblagen gefüllt sind, basierend auf den Themen und Bildern ihrer Filme. Prouvost erlaubt kein passives Betrachten, durch ihre Arbeit spricht sie die Betrachter*innen oft direkt an und zieht sie in ihre widerspenstigen, fantasievollen Visionen.

Laure Prouvost (geboren 1978, lebt in Antwerpen) ist Absolventin des Central St Martins und Goldsmiths College in London. Sie nahm auch am LUX Associate Artists Programme teil. Zu ihren letzten Einzelausstellungen gehören: in der Kunsthal Charlottenborg, Kopenhagen (2021); in der Lisson Gallery London (2020); in der Kunsthalle Lissabon (2020); im les Abattoirs, Toulouse und am LaM – Lille Métropole Musée d’art moderne, d’art contemporain et d’art brut, Villeneuve d’Ascq (2020); im M HKA – Museum of Contemporary Art Antwerp (2019) sowie im Palais de Tokyo, Paris (2018). Prouvost vertrat Frankreich im Rahmen der 58. Venedig Biennale (2019) und nahm an der 22. Sydney Biennale teil (2020). Prouvost gewann 2011 den Max Mara Art Prize for Women und war Preisträgerin des Turner Prize 2013.

Lick In The Past, 2016
Einkanal-Video, Farbe, Ton
8:23 Min.
Courtesy die Künstlerin und Galerie carlier | gebauer, Berlin/Madrid
Text Cynthia Krell
Übersetzung Amy Patton
Foto Ines Könitz

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3.21 Ramin Haerizadeh, Rokni Haerizadeh, Hesam Rahmanian
From Sea to Dawn

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3.21 Ramin Haerizadeh, Rokni Haerizadeh, Hesam Rahmanian
From Sea to Dawn
1.5.–14.7.21
Gleich zu Beginn der Videoarbeit From Sea to Dawn (2016/17) spielen sich dramatische Szenen auf dem Mittelmeer ab. Menschen werden aus überfüllten Booten gerettet, gezeigt werden auch im Meer treibende, gestrandete oder leblose Körper. Es folgen Aufnahmen, wie wir sie aus den Nachrichten kennen und im kollektiven Bildergedächtnis abgespeichert haben: Mehr
Szenen der rettenden Ankunft am Strand, die Versorgung von erschöpften Menschen, Berge von benutzten Schwimmwesten, sich bewegende Menschen-Massen auf dem Weg durch Europa, abschreckende Grenzbefestigungen und Sicherheitskräfte, fürsorgliche Helfer*innen mit Wasserflaschen und Lebensmitteln. Das Video endet, wie im Werktitel angedeutet, mit einem nicht abbrechenden Menschen-Zug der Morgendämmerung entgegenlaufend. Als ein Verweis auf den Ursprung der Nachrichtenbilder ist das Video ohne Ton mit Untertiteln versehen, die den O-Ton wider geben oder die Aufnahmen journalistisch kommentieren.

Doch hier begegnen uns nicht nur die nackten Medienbilder, die uns als europäisch sozialisierte Rezipienten immer wieder aufwühlen, mitfühlen, teilweise schockieren oder auch mit der Zeit abstumpfen lassen. Denn für die Erstellung ihrer „bewegten Gemälde“ („Moving Paintings“) kombinieren die Künstler Ramin Haerizadeh, Rokni Haerizadeh und Hesam Rahmanian, Medienbilder mit Found Footage-Material, drucken diese als Einzelbilder aus und bemalen sie manuell. So entstehen durch die Übermalungen in Form von Linien, Mustern und Ornamenten teilweise sehr poetische Verfremdungen, die sowohl verspielte als auch grotesk wirkende Kreaturen zum Leben erwecken. Im Video werden die Gesichter der Migrant*innen von Marienkäferflügeln verdeckt, die sich bewegenden Körper im Menschen-Zug erscheinen mal als schwebende Wolken-Wesen, als Fabelwesen oder auch als ein mäandernder Riesen-Organismus. Durch den Einsatz von Spiegeleffekten wirken einige Sequenzen fast surreal, indem menschliche Körper oder ein Schlauchboot zu fantastischen Wesen mutieren.

Die hier verwendeten Verfremdungseffekte lassen uns scheinbar in Distanz treten zu dem, was wir eigentlich zu sehen glauben. Die Übermalung, als gestisches Moment, fungiert als Kontrapunkt zu den medialen Nachrichtenbildern und erzeugt dadurch eine Überlagerung einer teils grausamen, teils tragischen Realität. Durch diesen malerischen Akt werden die dargestellten Szenen und Menschen von einer (symbolischen) zweiten Haut ummantelt und deren Privatsphäre geschützt. Sie setzen den massenmedial verbreiteten Nachrichtenbildern eine alternative Erzählung der Migration entgegen, die nicht das Leiden der anderen schonungslos in den Mittelpunkt stellt, sondern einen ästhetischen Reflexionsraum erschafft, der den Prozess des Bilderlesens verlangsamt und somit auch eine Reaktion des Betrachters einfordert. In ihren Werkreihen übersetzen die Künstler somit nicht nur die Macht der Massenmedien und die globalen Ungleichheiten durch die Fotografie oder das bewegte Bild, sondern implizieren immer auch die Frage nach den Möglichkeiten der Repräsentation und einer Überschreibung des kollektiven Bildergedächtnisses durch Gegenbilder.

Ramin Haerizadeh (geboren 1975, Teheran), Rokni Haerizadeh (geboren 1978, Teheran) und Hesam Rahmanian (geboren 1980, Knoxville) leben und arbeiten seit 2009 in Dubai zusammen. Sie arbeiten als Einzelkünstler unabhängig voneinander und propagieren eine Form der Zusammenarbeit die keine Individualität mehr in sich trägt. Sie trafen Mitte der 1990er-Jahre in Teheran aufeinander und jeder entwickelte weiterhin seine eigene künstlerische Handschrift weiter. Einige Jahre später bildeten sie ein loses Kollektiv und bezogen ein Haus in Dubai. Hier entstehen nicht nur ihre organisch wachsenden Gemeinschaftswerke wie etwa Installationen, Filme, Objekte und Skulpturen für Ausstellungen, sondern hier befindet sich auch ihre Sammlung von Kunstwerken, Alltagsgegenständen und gefundenen Objekten. Ihre Ausstellungen sind eine Kombination aus Perfomance, Malerei, Collage, Zeichnung, Videos und Texten, die oftmals in eine raumgreifende und ortsspezifische Installation einfließen. Ihr Interesse gilt auf den ersten Blick den Krisen des Nahen Ostens, der Untersuchung von Machtstrukturen sowie den Themen Exil und Migration in einer historischen Dimension. Dennoch sind ihre Arbeiten bildsprachlich subversiv und kulturell komplex aufgebaut, die auch satirische Szenen beinhalten oder das Absurde der globalisierten Welt offen legen. Zu ihren künstlerischen Strategien und Elementen gehören auch Kostüme, Rollenspiele, performative Objekte und selbst gebaute Mal-Maschinen, die sie bei der Entstehung ihrer raumgreifenden Installationen einsetzen. Ein wesentlicher Bestandteil ihrer Praxis ist der Austausch und die Zusammenarbeit mit befreundeten Kulturschaffenden, Schriftsteller*innen oder Künstler*innen, die sie zu ihren Ausstellungen einladen mitzuwirken.

Ihre Werke wurden in zahlreichen Einzel- und Gruppenausstellungen sowie Biennalen weltweit gezeigt. Einzelausstellungen der vergangenen Jahre fanden in den folgenden Institutionen statt: in der Schirn Kunsthalle, Frankfurt am Main (2020); im Frye Art Museum, Seattle (2019); im Officine Grandi Riparazioni (OGR), Turin (2018); im MACBA, Barcelona (2017); im Institute of Contemporary Art (ICA), Boston (2015); in der Kunsthalle Zürich (2015) und dem Den Frie Centre of Contemporary Art, Kopenhagen (2015). Zu den wichtigsten Gruppenausstellungen zählen unter anderem die Teilnahme an der 22. Sydney Biennale, (2020); der Toronto Biennial of Art (2019); im Louisiana Museum of Modern Art, Humlebæk (2019); im Guggenheim Abu Dhabi (2017) und an der 9. Liverpool Biennale (2016).

From Sea to Dawn, 2016/17
Einkanal-Farbvideo (Rotoskopie), ohne Ton
6:21 Min.
Courtesy die Künstler und Gallery Isabelle van den Eynde, Dubai
Text Cynthia Krell
Übersetzung Amy Patton
Foto Ines Könitz

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2.21 Ramin Haerizadeh, Rokni Haerizadeh, Hesam Rahmanian
From March to April…2020

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2.21 Ramin Haerizadeh, Rokni Haerizadeh, Hesam Rahmanian
From March to April…2020
15.4.–30.4.21
In ihrem Video From March to April… 2020 lassen uns die Künstler an ihrem Alltag in Dubai während des ersten Lockdowns teilhaben. In Vogelperspektive wird ein langer und vollgestellter Ess- und Arbeitstisch abgefilmt. Zu sehen sind der täglich gedeckte Tisch mit wechselnden Gerichten der persischen Küche vor dem Essen. Mehr
Diese Bilder werden überlagert von künstlerischen Materialien wie etwa angemischte Farben, benutzte Pinsel, verschieden große Wasserbehälter, aufgeschlagene Bücher und Zeitungen, unzählige übermalte Kopien historischer Fotografien und andere unvollendete Kunstwerke. Zum Teil erzeugen die übermalten Einzelbilder eine sekundenlange Animation. Im Gegensatz zu ihren performativen Arbeiten, treten die Künstler hier selbst nicht auf. Aber wir hören (ihre) männlichen Stimmen, die die Wochentage chorisch aufsagen: „Monday, Tuesday, Wednesday, Thursday, Friday, Saturday, Sunday“. Die gesprochenen Tage überlagern sich zunehmend durch unterschiedliche Tempi und erhalten dadurch einen mantraähnlichen Charakter.

Die Videoarbeit funktioniert wie ein visuelles Tagebuch, auch wenn die Tage nicht datiert sind und der Ausnahmezustand provoziert durch eine globale Pandemie nicht thematisiert wird. Vielmehr reduzieren die Künstler den Alltag bewusst auf zwei wiederkehrende Handlungen – das Essen und die künstlerische Arbeit – und verwenden hierfür den Ess- und Arbeitstisch als zufällig arrangierte Bühne. Als Gesamtkomposition erinnert der von oben gefilmte Tisch an Daniel Spoerris Fallenbilder (Tableau Piège) aus den 1960er Jahre. Ein wesentlicher Unterschied ist jedoch nicht nur das zeitbasierte Medium, sondern die Wiederholung als strukturelles Element in der Videoarbeit. Die Aufnahmen der Handlungen und die gesprochenen Wochentage wiederholen sich, ein kurzes Musikstück und einzelne Verse eines Gedichts des palästinesischen Dichters Mahmoud Darwish werden eingeblendet. Durch die poetischen Einschübe der Verse wie etwa „If I had two hearts / I wouldn’t regret“ oder „If I had two paths / I would choose the third“ entsteht ein gedanklicher Zwischenraum, der die scheinbare Monotonie des Alltags für kurze Zeit durch Literatur unterbricht.

Die Künstler werden in diesen Tagen noch stärker (als sonst) auf sich selbst und ihre Kunst zurückgeworfen. Das gemeinsame Leben und Arbeiten des Trios geht einher mit Ritualen, verdichtet sich in den Arbeitsergebnissen und wird dabei als Prozess für uns im Video nachvollziehbar gemacht. Wir sehen aber nicht nur der Kunst beim Entstehen zu, sondern werden mit einem offenen Ende konfrontiert. Das Video From March to April… 2020 ist in seiner Konzentration auf alltägliche Handlungen weder sozialkritisch noch politisch. Entstanden sind vielmehr persönliche Notationen eines „Nicht-mehr“ oder „Noch-nicht“, eines Zwischenzustandes von Raum und Zeit, eines Resonanzraumes zwischen Verlust und Erneuerung – es sind Dokumente der Flüchtigkeit eines Moments, der immer auch zukünftige Veränderungen in sich trägt.

Ramin Haerizadeh (geboren 1975, Teheran), Rokni Haerizadeh (geboren 1978, Teheran) und Hesam Rahmanian (geboren 1980, Knoxville) leben und arbeiten seit 2009 in Dubai zusammen. Sie arbeiten als Einzelkünstler unabhängig voneinander und propagieren eine Form der Zusammenarbeit die keine Individualität mehr in sich trägt. Sie trafen Mitte der 1990er-Jahre in Teheran aufeinander und jeder entwickelte weiterhin seine eigene künstlerische Handschrift weiter. Einige Jahre später bildeten sie ein loses Kollektiv und bezogen ein Haus in Dubai. Hier entstehen nicht nur ihre organisch wachsenden Gemeinschaftswerke wie etwa Installationen, Filme, Objekte und Skulpturen für Ausstellungen, sondern hier befindet sich auch ihre Sammlung von Kunstwerken, Alltagsgegenständen und gefundenen Objekten. Ihre Ausstellungen sind eine Kombination aus Perfomance, Malerei, Collage, Zeichnung, Videos und Texten, die oftmals in eine raumgreifende und ortsspezifische Installation einfließen. Ihr Interesse gilt auf den ersten Blick den Krisen des Nahen Ostens, der Untersuchung von Machtstrukturen sowie den Themen Exil und Migration in einer historischen Dimension. Dennoch sind ihre Arbeiten bildsprachlich subversiv und kulturell komplex aufgebaut, die auch satirische Szenen beinhalten oder das Absurde der globalisierten Welt offen legen. Zu ihren künstlerischen Strategien und Elementen gehören auch Kostüme, Rollenspiele, performative Objekte und selbst gebaute Mal-Maschinen, die sie bei der Entstehung ihrer raumgreifenden Installationen einsetzen. Ein wesentlicher Bestandteil ihrer Praxis ist der Austausch und die Zusammenarbeit mit befreundeten Kulturschaffenden, Schriftsteller*innen oder Künstler*innen, die sie zu ihren Ausstellungen einladen mitzuwirken.

Ihre Werke wurden in zahlreichen Einzel- und Gruppenausstellungen sowie Biennalen weltweit gezeigt. Einzelausstellungen der vergangenen Jahre fanden in den folgenden Institutionen statt: in der Schirn Kunsthalle, Frankfurt am Main (2020); im Frye Art Museum, Seattle (2019); im Officine Grandi Riparazioni (OGR), Turin (2018); im MACBA, Barcelona (2017); im Institute of Contemporary Art (ICA), Boston (2015); in der Kunsthalle Zürich (2015) und dem Den Frie Centre of Contemporary Art, Kopenhagen (2015). Zu den wichtigsten Gruppenausstellungen zählen unter anderem die Teilnahme an der 22. Sydney Biennale, (2020); der Toronto Biennial of Art (2019); im Louisiana Museum of Modern Art, Humlebæk (2019); im Guggenheim Abu Dhabi (2017) und an der 9. Liverpool Biennale (2016).

From March to April… 2020, 2020
Einkanal-Farbvideo, Ton
7:46 Min.
Courtesy die Künstler und Gallery Isabelle van den Eynde, Dubai
Text Cynthia Krell
Übersetzung Amy Patton
Foto Ines Könitz

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1.20 Pakui Hardware
Extrakorporal

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1.20 Pakui Hardware
Extrakorporal
1.12.–26.2.21
Das Interesse von Pakui Hardware richtet sich auf die enge Beziehung zwischen Materialität, Technologie und Ökonomie. Im Zentrum ihrer Arbeit steht die Frage, inwiefern Technologie die Ökonomie und unsere physisch-körperliche Wahrnehmung von Wirklichkeit tatsächlich verändert. Sie gehen in ihrer künstlerischen Beschäftigung Fragen der Automation, Robotik, synthetischer Biologie und der Bedeutung neuer Materialien nach. Mehr
In den Skulpturen, Plastiken und Installationen des Künstlerduos durchdringen sich verschiedene Materialien, Bilder und Körper, die oftmals an futuristische oder biologische Settings erinnern. Technische Gewebe und Stoffe treffen dabei auf transparente, flüchtige Materialien; sie bestimmen die ebenso organische wie synthetische Erscheinung ihrer Objekte und Rauminstallationen.

Extrakorporal (2018) lässt die Besucher*innen wie in eine Petrischale eintauchen. Oder eröffnet der Ausstellungsraum gar ein schamanisches Reich? Hier wachsen Organe und Gewebe außerhalb von Körpern, deren zukünftiges Verhalten rein spekulativ ist. Turritopsis-Quallen und Seeigel-Larven werden Zelle für Zelle untersucht, um das Rezept ihrer Unsterblichkeit zu finden. Diese sich autonom generierenden und organisierenden Gewebe sind nicht nur biologischen, sondern auch wirtschaftlichen Gesetzen unterworfen. Denn die Biosubstanzen und -materialien werden in gewinnbringende Projekte investiert, womit sie sich in abstrakte Biowerte verwandeln und zum Bestandteil einer Ökonomie werden.

Ein scheinbar vertrautes, aber schwer fassbares Objekt schwebt im Raum – aus verschiedenen Materialien wie thermogeformtes Plexiglas, Silikon und vielen verschiedenen Stoffen. Formal inspiriert ist es von den detailreichen, zoologischen Glasmodellen von Leopold Blaschka (1822–1895) und Rudolf Blaschka (1857–1939) oder den ebenfalls organisch wirkenden, durchsichtigen und zarten Plastiken der Künstlerin Eva Hesse. Es ähnelt rituellen Masken ohne Schamanen. Es erinnert an hybride Kreaturen oder Trophäen, die aus den Lebensessenzen und der Unsterblichkeit dieser Meeresbewohner extrahiert wurden und jetzt ihr Eigenleben entwickeln. Doch besitzt sie noch/auch körperheilende Kräfte?

Mit Extrakorporal untersuchen Pakui Hardware mit künstlerischen Mitteln einmal mehr die Bedeutung von Körpern, Performativität von Materialien und dem Profit aus biologischen Substanzen. Die Wissenschaften sind dabei nur ein Ausgangspunkt ihrer Untersuchung. Was Pakui Hardware ebenso interessiert sind die Ökonomien dahinter, die sich auch in den zugrundeliegenden Produkten und Materialien spiegeln. Sie beschäftigt was Waldby und Mitchell als „Gewebewirtschaft“ (Tissue Economies)¹ bezeichnet haben: die Auswirkungen von Biokapitalismus und regenerativen Medizintechnologien, die aus therapeutischen wie ökonomischen Gründen immer mehr auf menschlich-tierische Stoffe wie Haut, Blut, Zellmaterial zurückgreifen. Damit suchen Pakui Hardware nach einer skulpturalen Übersetzung der disparaten Elemente und Themen, die hier miteinander agieren. Ähnlich den Wissenschaftler*innen, die die unerklärlichen Energien der Selbstverjüngung in der Verbindung von menschlichen mit nichtmenschlichen Substanzen anderer Spezies suchen, verschmelzen künstlich-industrielle und organische Formen in der Ausstellung auch zu einer körperlich erfahrbaren und dennoch spekulativen Realität. Der Raum um unseren Körper wird zur Petrischale, zum symbolischen Ausdruck unseres ewigen Strebens nach Unsterblichkeit im Spannungsfeld von Ökonomie, Wissenschaft und Technik.

Pakui Hardware (*1977 und *1984, Litauen) leben und arbeiten in Berlin und Vilnius. Ihre nächsten Einzelausstellungen werden im Leopold-Hoesch-Museum, Düren (2021) und im BALTIC Art Center, Gateshead (2020) zu sehen sein. Sie hatten bereits Einzelausstellungen im Museum der bildenden Künste Leipzig (2020), in der Future Gallery, Mexiko (2019), im Bielefelder Kunstverein (2018), im Tenderpixel, London (2018), und in dem Museum Moderner Kunst Stiftung Ludwig, Wien (2016). Sie haben an zahlreichen Gruppenausstellungen darunter im MO.CO La Panacée, Montpellier (2020), an der Biennale Gherdëina 7 (2020), an der 16. Istanbul Biennale (2019), im MAXXI Rom (2019), an der 13. Baltischen Triennale im CAC, Vilnius (2018), im BOZAR Brüssel (2018), in der Kunsthalle Basel (2017) und im Kunstverein Braunschweig (2017) teilgenommen.

Extrakorporal, 2018
Text Thomas Thiel
Auszug aus dem Begleittext zur Ausstellung von Pakui Hardware im Bielefelder Kunstverein, 2018.
Foto Ines Könitz

¹Robert Mitchell, Catherine Waldby (Hg.), Tissue Economies: Blood, Organs, and Cell Lines in Late Capitalism, Duke University Press, März 2006.

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